Ein Vampir fuer alle Sinne
schlief friedlich, und ihr Blutbeutel war eben erst ausgetauscht worden, also konnte gar nichts schiefgehen. Hätte man meinen sollen. Aber als er aus dem Badezimmer kam, war das Bett verlassen, und der Blutbeutel lag leer auf dem Fußboden.
Er wollte in den Flur rennen, um Livy zu suchen, doch dann fiel ihm die offene Fliegengittertür auf, durch die man nach draußen gelangen konnte. Zwar befand man sich hier genau genommen im Untergeschoss, aber das Cottage war in einen Hügel hineingebaut worden. Der Keller lag somit nur zum Teil unter der Erde, und über ein paar Stufen konnte man von hier unten aus hinauf in den Garten gelangen.
Fluchend lief Paul durch diese Tür nach draußen und machte sich auf die Suche nach seiner Tochter.
Ein Blick genügte, um zu sehen, dass sie sich nicht im Garten oder am Seeufer aufhielt. Daher lief er um das Gebäude herum. Ihm war nur zu deutlich bewusst, wie heiß und grell die Sonne vom Himmel brannte, weshalb sich Livy auf keinen Fall hier draußen aufhalten sollte.
Gerade fuhr ein Wagen vor, als Paul um das Cottage herumgelaufen kam, doch er nahm davon kaum Kenntnis. Stattdessen galt seine ganze Aufmerksamkeit den zwei Mädchen, die im Gras beisammenstanden. Es waren Livy und Kirsten, die sich wieder bei dem toten Vogel getroffen hatten. Allerdings befassten sie sich jetzt nicht mit dem Vogel, sondern sie schienen einander etwas zuzuflüstern, aber als Paul näher kam, stieß Kirsten Livy plötzlich von sich und rannte davon, während sie schrie: »Aaaah! Livy will mich beißen!«
Sofort rannte Livy hinter ihr her, die Finger wie lange Krallen verformt. Auch ihre Fangzähne waren hervorgetreten.
»Oh Gott!«, hauchte Paul und folgte den Mädchen. Es gelang ihm, Livys Taille zu umfassen, gerade als sie Kirsten von hinten anspringen wollte. Mit ausgestreckten Armen hielt er sie hoch und drehte sie zu sich um. Dann zuckte er zusammen, als er ihre silbern leuchtenden Augen und die spitzen Fangzähne sah. Sie knurrte wie ein tollwütiger Hund, der Mund war blutverschmiert, aber Paul wusste nicht, ob es sich um das Blut aus der geleerten Blutkonserve handelte oder ob sie Kirsten gebissen hatte.
»Livy?«, murmelte er erschrocken. Gleich darauf stieß er vor Entsetzen einen Schrei aus, da sie nach ihm ausholte. Er reagierte nicht schnell genug, und somit wäre er auch nicht in der Lage gewesen sie abzuwehren. Das musste er auch gar nicht, da sie ihm in letzter Sekunde aus den Händen gerissen wurde.
Paul starrte den Mann an, der nun seine Tochter festhielt. Ein großer, blonder Typ mit silbrig blauen Augen, dessen Statur und Haltung Selbstvertrauen und Stärke ausstrahlten. Er hatte etwas Beeindruckendes und Einschüchterndes an sich.
Ein Blick auf Livy genügte, und diese schlief auf der Stelle ein, worauf der Mann seine Aufmerksamkeit wieder auf Paul richtete. Er wandte sich an jemanden, der hinter ihm stand, und sagte: »Kümmer dich um die Sterbliche, Anders.«
Paul schaute über die Schulter und sah, wie der Vollstrecker nickte und in die Richtung ging, in die Kirsten gerannt war. Dann musterte er wieder den blonden Mann, der Livy an seine Brust drückte.
»Nicht so ganz das, was du erwartet hast, nicht wahr, Sterblicher?«, sagte er mit düsterem Tonfall. »Du dachtest nur daran, dass Livy wieder gesund sein würde. Ein Happy End für alle Beteiligten. Dir kam gar nicht der Gedanke, dass sie sich verändern würde. Dass es kein Traum, sondern ein Albtraum werden könnte.«
»Sie …«, begann Paul, verstummte aber, als eine hochschwangere Brünette neben dem Blonden auftauchte und sich bei ihm unterhakte.
»Sie ist seine Tochter, Lucian«, sagte sie mit sanfter Stimme.
Als Paul den Namen hörte, versteifte er sich unwillkürlich. Das war also Jeanne Louises Onkel, der Mann, der über sein Schicksal entscheiden würde. Der Kerl flößte einem ja schon Angst ein, wenn er nur dastand.
»Er liebt sie«, redete sie weiter auf ihn ein. »Und Jeanne Louise liebt ihn. Was hättest du nicht alles getan, um deine Töchter in Atlantis zu retten? Und was würdest du alles tun, um das Kind zu retten, das ich bald zur Welt bringen werde?«
Lucian Argeneau sah sie an und nahm den bittenden Ausdruck in ihren Augen wahr. Dann drehte er sich wieder zu Paul um, und mit einem Mal wirkte er entspannter, wenn auch nicht freundlicher. Seine Augen loderten nicht mehr so intensiv, und auch seine Wut hatte merklich nachgelassen.
»Livy ist momentan nicht sie selbst«, erklärte Lucian.
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