Ein Vampir für jede Jahreszeit
Mirabeau ins Schlafzimmer kam, schien Stephanie bereits fest zu schlafen. Sie erschrak, als das Mädchen dann ohne Vorwarnung flüsterte: »Ich weiß, dass es dir schwerfällt, andere an dich heranzulassen, weil du Angst hast, sie wieder zu verlieren. Du hast Angst, den Schmerz, den wir erlebt haben, noch einmal durchmachen zu müssen. Aber es ist das Risiko wert. Schließlich bereust du ja auch nicht, deine Familie geliebt zu haben, oder?«
Mirabeau erstarrte, schockiert über diese Worte, die aus dem Mund eines so jungen Mädchens kamen. Dass ein Kind ein solches Maß an Einfühlungsvermögen und Weisheit an den Tag legte, war schon außergewöhnlich. Aber Stephanie war eben auch ein außergewöhnliches Mädchen.
»Das hat Dani vor einiger Zeit zu mir gesagt«, gestand Stephanie. »Und sie hat recht. Ich darf keine Angst davor haben, wieder andere in mein Herz zu lassen, denn dann würden mir einige tolle Sachen entgehen. Und dir auch.«
Mirabeau hörte, wie sich Stephanie bewegte, und sah gerade noch, dass sie sich von ihr wegdrehte und auf die Seite rollte. Offenbar hatte sie ihr nun nichts mehr zu sagen. Für Mirabeau wurde es ohnehin Zeit, sich hinzulegen und ein paar Stunden zu schlafen, ehe die Sonne aufging. Sie kroch ins Bett, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Stattdessen grübelte sie über Marguerites Komplott nach, und darüber, dass sie Tinys Gedanken nicht lesen konnte und sich so verzweifelt nach ihm sehnte wie noch nach keinem Mann in den letzten vierhundertfünfzig Jahren – was wohl bedeutete, dass er tatsächlich ihr Lebensgefährte war. Auch Stephanies Worte gingen ihr durch den Kopf. Die Vorstellung, jemand anderen wieder so nah an sich heranzulassen, war erschreckend. Aber wollte sie denn wirklich aus Angst vor einem Schmerz, der möglicherweise irgendwann einmal kam, auf das verzichten, was sie beide zusammen aufbauen konnten?
All diese Gedanken drehten sich unaufhörlich in ihrem Kopf, während die Nacht langsam verrann. Alles wirkte so Furcht einflößend und merkwürdig, dass Mirabeau geradezu erleichtert war, als endlich die ersten Lichtstrahlen durch den Spalt zwischen den Vorhängen fielen. Sie war sich immer noch unschlüssig, wie sie mit Tiny umgehen sollte. Da war es eine Befreiung, dass es endlich weiterging und sie zumindest vorübergehend von ihren Grübeleien abgelenkt wäre.
9
»Möchtest du mal abbeißen?«
Verblüfft hob Mirabeau den Kopf und begutachtete das Ding, mit dem Tiny vor ihrem Gesicht herumwedelte und das er als Chili Cheese Dog bezeichnete. Stirnrunzelnd brummte sie: »Ich nehme kein Essen zu …« Das letzte Wort verwandelte sich in ein überraschtes Keuchen, als Tinys Hand plötzlich nach vorne zuckte und er ihr den Hotdog zwischen Oberlippe und Nase drückte.
»Der war gut«, amüsierte sich Stephanie und kaute auf ihrem Cheeseburger herum.
Mirabeau sah die beiden finster an, stieß den Hotdog weg, den Tiny ihr noch immer unter die Nase hielt, und wischte sich das warme Chili von der Nase. Dann leckte sie die Oberlippe ab – und der böse Gesichtsausdruck wich einer Verblüffung, als der gute, würzige Geschmack auf ihrer Zunge explodierte. Sie konnte sich ein leises »Mmm« nicht verkneifen.
»Na, zum Glück habe ich für dich auch noch einen besorgt, obwohl du behauptet hast, du wolltest keinen«, neckte Tiny sie, nahm einen weiteren Chili Dog von dem Tablett, das er zum Tisch mitgebracht hatte, und stellte ihn ihr hin.
Mirabeau zögerte. Eigentlich aß sie kaum noch etwas. Gelegentlich nahm sie zwar noch Nahrung zu sich, wenn sie Jeanne Louise Gesellschaft leistete, aber davon abgesehen interessierte sie sich eigentlich nicht mehr dafür. Mit der Zeit war Essen schlicht und einfach langweilig geworden. Dieses Chilizeug allerdings, das war ganz und gar nicht langweilig. Sie verfolgte, wie Tiny vorsichtig seinen Hotdog, der dick mit Chili bestrichen war, aufnahm und genüsslich hineinbiss. Möglicherweise hatte sie die ganze Zeit auch nur das Falsche gegessen, dachte Mirabeau und tat es Tiny gleich.
»Oder Tiny ist dein Lebensgefährte, und deswegen sind neben deiner Libido auch deine Geschmacksknospen wieder erwacht. Bei Decker war es genauso«, bemerkte Stephanie trocken.
Mirabeau hatte gerade wieder in den Hotdog gebissen, hielt nun inne und starrte die Kleine böse an. Allerdings hielt sie nicht lange durch, denn auf ihrer Zunge tanzten die wundervollsten Aromen. Unfreiwillig schloss sie die Augen und genoss die
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