Ein Vampir für jede Jahreszeit
sich an ihr eigenes, als sie siebzehn Jahre alt gewesen war. Sie hoffte inständig, dass Danis Beistand und der glückliche Umstand, dass Stephanies Familie zumindest nicht tot war, ihr helfen würden, sich schneller von dem tiefen Einschnitt in ihrem Leben zu erholen als sie selbst. Denn wenn sie ehrlich war, hatte sie sich im Grunde nicht davon erholt.
8
Tiny drehte das Wasser ab und trat mit einem zufriedenen Seufzen aus der Dusche. Es war so schön, wieder sauber zu sein. Obwohl er im Gegensatz zu Mirabeau kein Schlammbad genommen hatte, hatte der Gestank der Kanäle trotzdem an seiner Haut und Kleidung gehaftet. Es war schon eine Erleichterung, die Klamotten loszuwerden, und noch großartiger, die Gerüche von sich abzuwaschen. Er freute sich darauf, in saubere Sachen schlüpfen zu können, auch wenn sie eigentlich für Touristen gedacht waren – saubere Touristenklamotten waren allemal besser als sein stinkiger Armani-Anzug. Obwohl ihm das Designerteil schon gefallen hatte und er bedauerte, dass das edle Stück nach dem Ausflug ins Kanalsystem nun leider ruiniert war.
Voller Vorfreude auf die frische Kleidung trocknete sich Tiny schnell ab, wickelte das Handtuch um die Hüften und eilte aus dem Badezimmer. Begleitet von einer Dampfwolke betrat er das Schlafzimmer – und blieb sofort stehen, als Mirabeau eilig auf ihn zukam. Sie sah erleichtert aus.
»Ach, ein Glück«, murmelte sie und huschte an ihm vorbei ins Badezimmer.
Verwundert beobachtete Tiny, wie sie ihr Kleid und die spitzenbesetzte Unterwäsche vom Boden aufhob und durchsuchte. Dann warf sie die Wäsche mit einem Fluch angewidert auf den Boden zurück. »Was ist denn los?«, erkundigte sich Tiny.
Seufzend erklärte sie: »Ich wollte für Stephanie etwas Blut aus dem Auto holen. Ich hatte die Schlüssel im BH versteckt, bevor ich ins Kanalsystem gestiegen bin, und jetzt sind sie nicht mehr da.« Missmutig verzog sie das Gesicht. »Ich muss sie wohl verloren haben, als ich im Tunnel hingefallen bin.«
»Hmm«, murmelte Tiny und bewunderte Mirabeau in ihrem neuen Outfit. Die schwarze Jogginghose mit dem NYC-Schriftzug entlang der Seitennaht war ein wenig zu groß und hing sehr tief auf den Hüften. Das Trägertop dagegen saß perfekt und betonte wunderbar ihre Brüste. Das habe ich gut ausgesucht , befand er. Sie sah sogar noch toller aus, als er erwartet hatte – und er beneidete etwas die Autoschlüssel, die zumindest ein wenig Zeit in diesem wundervollen Ausschnitt hatten verbringen dürfen.
Mirabeau machte ein genervtes Geräusch. Er eiste den Blick widerwillig von ihrem Körper los. »Ich werde wohl Lucian anrufen und es ihm gestehen müssen. Er muss jemanden mit den Schlüsseln herschicken oder gleich ein ganz neues Auto.« Sie schnaubte gereizt. »Gott, er wird so sauer sein. Damit ist unser geheimer Abgang durch die Kanäle vollkommen sinnlos geworden, denn Leonius oder einer seiner Männer kann problemlos Lucians Boten folgen, und dann …«
»Wir müssen Lucian nicht verständigen«, unterbrach Tiny. Mirabeau drehte sich erstaunt nach ihm um.
»Nicht?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann den Wagen auch ohne Schlüssel öffnen und starten.«
»Das kannst du?«
Sie sah ihn an, als wäre er ein Gott. Er grinste schief. Zwar genoss er die Bewunderung, doch er hätte sie sich lieber anders verdient als dadurch, dass er ihr einen unangenehmen Anruf bei Lucian ersparte. »Das ist eine meiner vielen fragwürdigen Fähigkeiten aus der Zeit, bevor mich Jackies Vater unter seine Fittiche genommen und zum Privatdetektiv ausgebildet hat. Aus meiner, sagen wir mal, finsteren Vergangenheit. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich als Verbrecher geendet. Glücklicherweise habe ich ihn getroffen, als ich noch jung war.«
Tiny registrierte verwundert, dass Mirabeau das Geständnis mit einem breiten Lächeln aufnahm. Sie trat zu ihm und gestand ihm schmunzelnd: »Dieser zwielichtige Zug macht dich sogar noch attraktiver.«
Tiny hob die Brauen und erwiderte das Lächeln. Er fühlte sich eindeutig zu ihr hingezogen und hatte schon gehofft, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhe. Doch trotz Marguerites Andeutung darüber, dass sie möglicherweise Lebensgefährten sein könnten und Stephanies Bemerkung, dass sie scharf aufeinander wären, hatte er bei Mirabeau bisher keinerlei Anzeichen entdeckt, dass sie sich ernsthaft für ihn interessierte. Er hatte die Augen nicht von ihr lassen können, doch sie hatte sich ihm gegenüber
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