Ein verboterner Kuss
kleinen Lederband war schon jetzt ihr Lieblingsgedicht. Geschrieben vor tausend Jahren, war es noch immer so frisch und schön, dass es sie fast zu Tränen rührte.
Und sie kam wie die helle Morgenröte, die die dunkle Nacht durchbricht, oder wie der Wind, der die Wogen des Flusses streichelt.
Um mich herum der Horizont atmete Wohlgeruch und kündete von ihrer Ankunft, so wie der Duft einer Blume vorauseilt.
Die Tür ging auf, und Mr Netterton trat ein. „Ach, Verzeihung, ich wollte Sie nicht stören, Greystoke. Miss Pettifer ist gerade nach oben gegangen, um sich um ihren Vater zu kümmern. Und ich dachte, ich nutze die Gelegenheit und schreibe ein paar Briefe ... nun ja, ehrlich gesagt ... eine Predigt.“ Er sah einigermaßen verlegen aus. „Die Sache ist, ich habe noch nie einen ganzen Gottesdienst allein gehalten. Nun machen Sie nicht so ein überraschtes Gesicht, den Routineablauf beherrsche ich. Sorgen bereitet mir nur die Predigt. Ich dachte, ich könnte mir hier ein paar Ideen holen. Unter all diesen Büchern sollten doch auch welche sein, in denen die eine oder andere Predigt stehen könnte.“ Er zeigte auf die vielen, verstaubten Regale.
„Ja, ich kann verstehen, dass das etwas nervenaufreibend ist“, stimmte sie zu. „Das ist Ihr erstes Mal, und sicher wollen Sie ja auch einen guten Eindruck auf Ihre neuen Schäfchen machen.“
„Schäfchen.“ Er verzog das Gesicht. „Ich fühle mich eigentlich nicht wie ein Hirte. Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen - ich habe fast jede Predigt verschlafen, die ich je gehört habe. Langweiliges Zeug.“
Sie lächelte ihn an. „Dann wissen Sie ja genau, was Sie zu tun haben.“
Er schien verwirrt. „Wie meinen Sie das?“
„Nun, Sie wissen, wie man eine Predigt nicht schreiben sollte. Warum denken Sie sich nicht eine aus, die Ihnen früher sicher gefallen hätte?“
Er schnaubte. „Die einzige Predigt, die mir gefallen hätte, wäre kurz und bündig gewesen, vielleicht mit ein, zwei Scherzen darin und ohne jeden moralischen Zeigefinger.“
Grace lachte auf. „Genau. Da haben Sie ja Ihre Predigt.“ Er sah sie verblüfft an. „Ach ... das ist eine gute Idee! Wenn Sie nichts dagegen haben, mache ich mir rasch ein paar Notizen.“ Er setzte sich an den Schreibtisch und fing an zu schreiben.
Eine ganze Zeit saßen sie so da. Grace war ganz versunken in die Schönheit der arabischen Poesie, während Mr Netterton Seite um Seite füllte, sie dann alle zusammenknüllte und wieder von vorn anfing.
Nach einer Weile merkte Grace, dass er anscheinend fertig war und geistesabwesend auf die Bücherregale starrte. „Fertig?“
Er schrak zusammen. „Ja. Ja, ich glaube schon.“ Er sah zweifelnd auf das Blatt Papier vor ihm. „Sie ist sehr kurz.“ Sie musste über seinen Gesichtsausdruck lachen. „Keine Sorge, ich bin mir sicher, dafür wird Ihnen jeder dankbar sein. Welches Thema haben Sie gewählt?“
Er sah ein wenig verlegen aus. „Hm, es ist eher eine Art Fabel, nichts aus der Bibel. Über einen Neidhammel, also einen zweibeinigen, nicht den vierbeinigen. Sie spielt in einem anderen Land. Zu einer anderen Zeit.“
„Das hört sich goldrichtig an“, versicherte sie ihm. „Ein nettes ländliches Thema für eine ländliche Gemeinde. Sie werden ohnehin bis ans Ende Ihres Lebens Predigten schreiben, da brauchen Sie nichts zu überstürzen. Irgendwann haben Sie den Bogen heraus.“
Er warf ihr einen erschrockenen Blick zu. „Das ist genau wie in der Schule“, bemerkte er unglücklich. „Ich habe Aufsätze schon damals gehasst. Warum zum Teu... um Himmels willen habe ich nur einen Beruf gewählt, in dem man schreiben muss?“
Das war eine Gelegenheit, die Grace nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. „Sie kannten Lord D’Acre schon aus Schulzeiten, nicht wahr? Wie war er denn damals?“
Frey schmunzelte und war froh über den Themenwechsel. „Anfangs war er ziemlich wild. Er sprach Englisch mit leichtem ausländischen Akzent, und er legte sich mit jedem an, der ihn schief ansah. Genauso haben wir uns übrigens kennengelernt. Wir lieferten uns eine gute, alte Prügelei, wobei ich vergessen habe, worum es ging. Aber wir schlugen heftig auf uns ein, bis keiner von uns mehr stehen konnte. Danach wurden wir die besten Freunde.“ Sie musste so entsetzt ausgesehen haben, wie sie sich fühlte, denn er fing an zu lachen. „Man merkt, dass Sie keine Brüder haben, Greystoke. Jungen sind einfach so. Ungehobelte kleine Rüpel. Erst prügeln sie
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