Ein verboterner Kuss
äußerst gefühlloser Mensch gewesen sein“, meinte Grace nachdenklich. Ein Zwölfjähriger war immer noch ein Kind und brauchte seine Mutter. Ihr blutete das Herz bei dem Gedanken an diesen Jungen.
„Er war ein richtiges Ungeheuer“, stimmte Mr Netterton zu. „Wollte Dom nicht einmal Weihnachten oder Ostern mit einem seiner Freunde verbringen lassen. Der arme Kerl kannte gar kein richtiges englisches Weihnachten. In den ersten Jahren hat er mich ständig darüber ausgefragt - man merkte ihm an, er fieberte förmlich darauf, es selbst einmal zu erleben. In Ägypten und in Italien feiert man Weihnachten nicht so wie bei uns, mit allem Drum und Dran. Anfangs klammerte er sich an alle diese Geschichten ...“ Er verstummte kopfschüttelnd.
„Erzählen Sie weiter“, bat sie sanft.
„Nun, er hoffte also weiter. Jedes Jahr ließ ihn sein Vater in dem Glauben, er könnte vielleicht Weihnachten nach Wolfestone eingeladen werden. Dominic wurde ganz aufgeregt -auch wenn er das nicht zugab, aber er war dann immer ... wie soll ich sagen, völlig aufgedreht. Nun ja, verständlich, das erste Weihnachten mit der Familie, Verwandten begegnen, Wolfestone sehen, das er einmal erben sollte ..."
„Und dann?“
„Jedes Jahr erhielt er in letzter Minute eine Absage. Einmal erschien tatsächlich eine Kutsche mit dem Wappen seines Vaters darauf. Da hätten Sie einmal Doms Gesicht sehen sollen! Seine Augen leuchteten förmlich vor Aufregung. Für ihn war es plötzlich wie Weihnachten und Ostern an einem Tag, im wahrsten Sinn des Wortes.“ Er ballte die Fäuste. „Wie sich herausstellte, war es nur ein Lakai, der ihm neue Kleidung brachte - jemand musste seinem Vater berichtet haben, dass er aus seinen alten Sachen herausgewachsen war - und ein Buch über die Familiengeschichte der Wolfes, die er während der Weihnachtsferien studieren sollte.“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu. „Der Alte schickte ihm hinterher sogar einen Test darüber. “
„Hat sein Vater denn gar nicht gemerkt, was er ihm damit antat?“
„Ich glaube, das war ihm gleichgültig. Er hat in Dom wohl nie einen Menschen mit Gefühlen gesehen. Er war eben einfach nur der Erbe.“
„Und was für ein Erbe, das er da antreten sollte.“ Jetzt verstand Grace, warum er in Bezug auf Wolfestone so furchtbar verbittert war.
Frey nickte. „Allerdings. Nun, danach hatte Dom für Weihnachten oder Ferien nur noch Hohn und Spott übrig. Er sagte, solche Anlässe wären bedeutungslos, dass er sich keinen Deut darum scherte. Weihnachten wäre nur ein dummer englischer Brauch und er hätte wirklich Besseres zu tun.“
„Menschen überspielen es oft, wenn sie verletzt worden sind“, flüsterte Grace. „Armer kleiner Junge, jegliche Geborgenheit und Freude wurden ihm versagt ..."
„Es war dumm von seinem Vater, ihn von seiner Mutter fernhalten und in einer Schule einsperren zu wollen.“
„Eher ein Verbrechen!“, empörte sie sich.
„Ja, das auch, aber in erster Linie dumm.“ Frey dachte eine Weile nach. „Wenn ich es recht bedenke, habe ich einiges daraus gelernt. Man kann solche Dinge nicht erzwingen, Treue oder Gehorsam, meine ich. “
„Liebe“, fügte Grace leise hinzu.
Mr Netterton nickte erneut. „Damit erreicht man höchstens das Gegenteil.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
„An seinem allerletzten Schultag sollte Dom nach Wolfestone fahren. Sein Vater hatte der Schule mitgeteilt, dass sein Sohn nicht nach Oxford gehen würde - obwohl er im Gegensatz zu mir sicher ein sehr guter Student geworden wäre. Nein, er sollte nach Wolfestone kommen und dort lernen, den Besitz zu verwalten.“ Frey schmunzelte. „Leider beging einer der Lehrer den Fehler, Dom vorher darüber aufzuklären.“
Grace beugte sich gespannt nach vorn. „Was geschah dann?“ „Die Kutsche seines Vaters traf ein, um ihn abzuholen, aber Dom war schon in der Nacht davor verschwunden. Er hatte genug Geld für eine Passage nach Hause angespart.“
„Nach Ägypten?“ Grace war fassungslos. „Ganz allein?“ Mr Netterton nickte stolz. „Den ganzen Weg nach Ägypten, quer über den Kontinent. Frankreich durchquerte er, als Napoleon gerade seine Mannen noch einmal zu Höchstleistungen anspornte, und er verpasste Waterloo nur um wenige Wochen. Was für eine Reise! “
„Seine Mutter muss überglücklich gewesen sein, ihn nach all den Jahren endlich wiederzusehen.“
„Nun ...“ Mr Nettertons Miene verdüsterte sich. „Das war die größte Tragödie von
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