Ein verführerischer Akt
immer auch eine gewisse Unsicherheit an den Tag legten, weil sie trotzdem nicht zur Oberschicht zählten.
Fünf Plätze also waren belegt, als Julian den Schlag öffnete, sich hineinbeugte und höflich fragte:.«Ist hier noch ein Platz frei?«
Der Fabrikant schien ihn zu erkennen, denn er bekam große Augen und sagte ehrfürchtig: »Natürlich, Mylord.«
Rebecca tat unbeteiligt, als er sich ihr gegenüber hinsetzte, und drückte das Gesicht an die Scheibe, um zu sehen, was ihre beiden Schatten gerade taten. Bestimmt warteten sie bis zum allerletzten Moment mit dem Einsteigen, um auch sicherzugehen, dass sie wirklich mitfuhr.
Sie hatte sie von ihrer Familie weggelockt und saß nun selbst in der Falle. Was sollte sie jetzt machen? Sie konnte ja kaum zu Tante Rianette fahren und damit weitere Familienmitglieder in Gefahr bringen. Es wollte ihr einfach nichts Gescheites einfallen. Sie legte eine Hand auf ihre Brust, wo sie unter Umhang und Kleid die Umrisse des Anhängers spürte, der warm auf ihrer Haut lag. Sie presste die Lippen aufeinander, wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Plötzlich strich etwas an ihrem Fuß entlang, und verdutzt wandte sie den Blick vom Fenster ab. Parkhursts lange Beine standen vor ihr, seine Knie berührten sie fast, und seine Füße wurden von ihren Röcken verdeckt. Er beobachtete sie aufmerksam, und um seinen Mund spielte ein leichtes Lächeln. Hastig zog sie die Hand von dem unter ihrer Kleidung verborgenen Diamanten.
Als sich der Zug endlich mit einem Ruck in Bewegung setzte, um London Richtung Norden zu verlassen, drehte sie sich wieder zum Fenster um und schaute hinaus. Um keinen Preis wollte sie sich mit Parkhurst unterhalten, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte, ohne dass die mitreisende Familie etwas von ihrem merkwürdigen Verhältnis zu ihm mitbekam.
Er schien zu der gleichen Erkenntnis gekommen zu sein, zumindest schwieg er ebenfalls. Trotzdem war sie sich seiner Gegenwart nur allzu bewusst, zumal sich durch das Ruckeln des Zuges ihre Beine gelegentlich berührten. Oder führte er das etwa bewusst herbei? Zuzutrauen wäre es ihm.
Irgendwann begann Mr Seymour, als solcher stellte sich der Mitreisende vor, zu ihrer Erleichterung eine Unterhaltung mit Julian über die Ausweitung des Schienennetzes, und sie kuschelte sich Wärme suchend in ihren Umhang. Neidvoll blickte sie auf die Decken der Familie – sie selbst hatte nicht daran gedacht, dass es in den Zügen immer sehr zugig war.
Nach ungefähr einer Stunde Fahrt und mehreren kurzen Stopps an Bahnhöfen in Middlesex und Hertfordshire begannen die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, aus purer Langeweile miteinander zu zanken, was erst aufhörte, als bei einem neuerlichen Halt das Dienstmädchen der Familie, das zweiter Klasse fuhr, Brote und Getränke aus dem Speisewagen brachte. Was die Frage nach Rebeccas Begleitung aufwarf, denn junge Damen ihres Standes pflegten nie alleine zu reisen. Eine peinliche Situation, die Parkhurst zu genießen schien, denn er lächelte, als würde er sich über sie amüsieren und sie schon in die Enge getrieben haben.
Ein Beben durchlief ihren Körper. Hatte sie nicht ein Abenteuer erleben wollen? Und das tat sie gerade, verfolgt von drei Männern und mit einem wertvollen Schmuck um den Hals. Wie viel abenteuerlustiger konnte eine behütete Lady noch sein? Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, um den Verbrechern zu entkommen. Überdies war da zudem der andere, der sie musterte, als wollte er sie gleich vernaschen.
Das musste aufhören. Sie drückte die Schultern durch und brachte ihre Beine in eine andere Position, weiter weg von seinen, obwohl sie sich eigentlich mehr Nähe wünschte. Viel mehr. Sie hob das Kinn, sah ihm fest in die Augen und streckte ihre Beine entgegen ihrem eigentlichen Vorsatz aus. Er zog eine Augenbraue hoch, und ein Lächeln spielte um seine Lippen, doch er rührte sich nicht, als sie auf sein Territorium vordrang.
Der kleine Junge, der vielleicht fünf Jahre alt sein mochte, wählte diesen Moment für einen Tobsuchtsanfall und ließ sich durch nichts beruhigen, sprang wild im Abteil herum und stürzte genau zwischen Rebecca und Julian zu Boden. Als beide sich gleichzeitig vorbeugten, um ihm aufzuhelfen, stießen sie mit den Köpfen zusammen. Während sie das Gefühl hatte, gegen einen Felsbrocken geprallt zu sein, schien er nicht einmal etwas davon mitbekommen zu haben.
»Ach du meine Güte«, rief Mrs Seymour und rang die Hände.
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