Ein verführerischer Akt
»Mylord, es tut mir so leid!«
Verblüfft beobachtete Rebecca, wie Julian den Jungen auf seine Knie setzte und aus dem Fenster zeigte.
»Auf dieser Seite des Zuges sieht es nicht viel anders aus als gegenüber, nicht wahr?«, meinte er ganz entspannt. »Wir fahren jetzt durch die Chiltern Hills. Weißt du, was das ist?«
Rebecca – ebenso die Eltern – hörten mit offenem Mund zu, wie sich Seine Lordschaft mit einem Fünfjährigen über den aus Kreide bestehenden Hügelzug unterhielt. Dabei hatte er gar keine eigenen Kinder, musste sich allerdings früh um die jüngeren Geschwister kümmern. Konnte ein Mann, der sich so einfühlsam mit einem Kind unterhielt, etwas mit einem Verbrecher zu tun haben? Was sollte sie nur mit ihm machen? Und vor allem mit den beiden anderen Männern, die nur darauf warteten, dass sie aus dem Zug stieg?
Julian beobachtete, wie Rebeccas angespannter Körper schließlich vom Schlaf übermannt wurde. Sie fuhren jetzt fast schon drei Stunden, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, und sie hatte den Zug kein einziges Mal verlassen, nicht einmal um an einem der Bahnhöfe die Toilette aufzusuchen oder sich etwas zu essen zu kaufen. Eigentlich musste sie doch hungrig sein; er war es auf jeden Fall. Warum verhielt sie sich so merkwürdig, wenn sie nur aus London vor der Wette floh?
Er konnte ihre verängstigte Miene nicht vergessen, als sie ihn am Bahnhof entdeckte. Irgendetwas hatte sich verändert, aber er wusste nicht was. Doch Julian war ein Mann, der nichts dem Zufall überließ, weder geschäftlich noch privat, und so richtete er seine gesamte Aufmerksamkeit jetzt auf Rebecca Leland.
Mehrmals hatte er gesehen, wie ihre Hand unbewusst zu ihrem Mieder glitt und dort nach etwas tastete. Trug sie vielleicht den Diamanten, obwohl er sich auf Lady Thurlows Empfang nicht an ihrem Hals befand? Wie kam er darauf, sie könnte die Kette für die Reise angelegt haben?
Ganz einfach, weil er immer auf seinen Instinkt vertraute.
Als beim nächsten Halt die gesamte Familie Seymour vorübergehend das Abteil verließ, nahm er die Gelegenheit wahr, sie anzusprechen. »Und wohin wollen Sie nun eigentlich ohne Ihre Zofe?«
Sie bedachte ihn mit einem kühlen, wenngleich zögernden Blick. Würde er etwas zu hören bekommen, das auch nur annähernd der Wahrheit entsprach?
»Warum sind Sie mir gefolgt?«, fragte sie mit leiser Stimme zurück.
»Ich nehme Wetten nicht auf die leichte Schulter. Und Sie haben mich außerdem direkt mit der Nase darauf gestoßen. Sie wollten, dass ich Ihnen folge.«
Sie holte tief Luft und beugte sich dann mit ernstem Blick nach vorne. »Sie sind nicht der Einzige, der mir gefolgt ist.«
Er sagte nichts, sondern musterte sie zunächst einmal nachdenklich. War das ein Trick, Teil eines Plans, um ihre Geheimnisse zu bewahren?
Aber dann sah er, wie sie erschrak und einen Schatten blasser wurde, als sie aus dem Fenster schaute. Irgendetwas war da, und sein Gefühl sagte ihm, dass sie ihm nichts vormachte. Wieder musste er daran denken, wie sie Madingley House durch den Vordereingang betreten hatte und hinten herausgekommen war, um dann mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch Londons Straßen zu preschen.
»Gehören die beiden zu Ihnen?« Sie schaute ihn an und deutete mit dem Kinn nach draußen.
Er sah an ihr vorbei. Der Bahnsteig war voller Menschen, doch nach einer Weile verstand er, wen sie meinte. Während die meisten anderen draußen herumliefen, um sich die Beine zu vertreten oder etwas zu kaufen, lungerten zwei nachlässig gekleidete Männer einfach so in der Nähe des Waggons mit den Erster-Klasse-Coupés herum und schauten genau zu ihrem Abteil hin.
Julian zog eine Augenbraue hoch. »Wie lange verfolgen die beiden Sie schon?« Er stellte in seinem Kopf sofort einen Zusammenhang her zwischen diesen Männern, dem Gemälde und dem Diamanten. Wusste sie überhaupt, was hier im Gange war?
Erstmals kam ihm auch die Idee, die Erben des Maharadschas könnten das großzügige Geschenk ihres Vaters wieder in ihren Besitz bringen wollen. Ausgeschlossen schien es ihm nicht.
Sie musterte ihn. »Sie fragen mich nicht einmal, ob ich mir das nicht nur einbilde. Liegt es daran, dass Sie mich wie eine verantwortungsbewusste Erwachsene behandeln – oder weil Sie bereits wissen, dass die beiden mich verfolgen?«
»Sie denken, dass ich mit den beiden unter einer Decke stecke«, sagte er frostig. Sie sollte ruhig merken, dass er ihr diese Unterstellung eigentlich übelnahm,
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