Ein verführerischer Akt
erfahren, dass er keine Skrupel kennt, unschuldige Menschen umzubringen.«
»Trotzdem: Ich hätte es erraten müssen«, sagte er ganz leise und bedrückt.
»Und ich finde es arrogant von dir, so viel zu erwarten. Du warst gerade einmal achtzehn Jahre alt!«
»Nun, immerhin hat dieser Achtzehnjährige eine ganze Familie vor dem völligen Ruin bewahrt.«
Seine Worte schockierten sie. »Du bist tatsächlich der Meinung, du könntest alles regeln, nicht wahr? Als würde die ganze Last zu Recht auf deinen Schultern ruhen. Ach, Julian, wie kannst du dir Dinge abverlangen, die du nie von anderen erwarten würdest?«
Ihre Teller wurden gebracht, und er fing schweigend an zu essen, das Gesicht wieder zur ausdruckslosen Maske erstarrt, die sie ausschloss. Ihr fiel nichts mehr ein, was sie hätte sagen können. Er musste vermutlich all diese neuen Enthüllungen verarbeiten, die seine Vergangenheit und die seiner Familie in einem völlig anderen Licht erscheinen ließen.
Er war ein Mensch, der es hasste, Fehler zu machen, und seine ganze Umgebung zu kontrollieren beanspruchte. Und jetzt musste er erkennen und eingestehen, dass ihn seine Intuition, von der er sich gerne leiten ließ, zumindest in dieser Angelegenheit getäuscht hatte. Wie schrecklich, jahrelang das Schlimmste vom eigenen Vater gedacht zu haben und dann herauszufinden, dass alles anders gewesen war.
Als sie zu ihrer Unterkunft zurückkamen, betrachtete Julian das heruntergekommene Gebäude und fällte eine Entscheidung. Ehe sie die offene Tür erreichten, wo mehrere Leute zusammenstanden, hielt er sie unter einer Gaslaterne an.
»Morgen werde ich versuchen, Geld zu verdienen, und schicke dich nach Hause zurück.«
Sie verdrehte die Augen, was ihn nur noch mehr ärgerte.
»Nimm das Collier und bring es in Sicherheit«, beharrte er. »Und vor allem dich selbst.«
»Julian, es gibt einen sehr guten Grund, warum ich dir nicht gehorchen werde.«
»Rebecca …«
»Ich habe dir zugehört, und jetzt kannst du im Gegenzug mir zuhören. Woher willst du überhaupt wissen, ob ich dort in Sicherheit wäre? Dein Onkel weiß, dass ich den Diamanten habe, und jetzt denkt er bestimmt, ich könnte ebenfalls wissen, was in dem Haus mit diesen armen Leuten passiert ist.«
»Dein Bruder wird …«
»Mein Bruder ist gar nicht in London, genauso wenig wie mein hochwohlgeborener Cousin.«
»Dann gehst du eben zur Metropolitan Police.«
»Um ihnen was zu erzählen? ›Officer, ich habe diesen seltenen Diamanten, der vor vielen Jahren gestohlen wurde, und jetzt sind seinetwegen bereits mehrere Menschen gestorben.‹ Julian, vielleicht kommen die sogar auf die Idee, ich könnte für die Mordfälle verantwortlich sein.«
»Die würden doch nie …«
»Ich habe für einen Akt Modell gesessen. So einer wie mir trauen sie vermutlich alles zu – jedenfalls bin ich für sie keine unschuldige, respektable Dame der Gesellschaft mehr. Sogar du denkst ja ein bisschen so!«
Er zuckte zusammen und fragte sich, ob und wodurch er sie verletzt hatte. Wenn bloß ihre Einwände nicht so vernünftig klingen würden!
»Und außerdem will ich bei dir bleiben«, fügte sie sanft hinzu, schob ihre Hand unter seinen Arm und lehnte den Kopf an seine Schulter.
Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
»Du leidest, Julian.«
»Das ist lächerlich.«
»Du hast Dinge über deine Familie erfahren, die du nie für möglich gehalten hättest. Es sollte im Moment jemand bei dir sein.«
Er dachte an die zurückliegenden gemeinsamen Tage, an die faszinierenden Einblicke in ihre Persönlichkeit, die sich ihm nach und nach enthüllt hatte wie die Blütenblätter einer Knospe. Sie machte ihn verrückt. Sie brachte ihn zum Lachen. Sie machte ihn halb wahnsinnig vor Begehren. Sie verwirrte ihn so sehr, dass er nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Wollte er eine derartige Ablenkung zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt?
Trotzdem: Rebecca hatte recht – er konnte es nicht riskieren, sie zurückzuschicken. Er vertraute darauf, dass er mehr als jeder andere in der Lage war, sie zu beschützen.
Aber wenn er nun versagte?
Der Gedanke ließ ihn kurz zögern, bevor er sich einen Ruck gab und das düstere Gefühl verdrängte. Er würde nicht versagen. Und es war lediglich ein Hinweis auf seinen verwirrten Zustand, dass er diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog.
»Na gut, du darfst bleiben«, sagte er schließlich.
Sie schaute mit einem zufriedenen Grinsen zu ihm auf. »Was machen wir also als
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