Ein verführerischer Akt
haben.«
Als die Dämmerung endgültig der dunklen Nacht wich, entdeckten sie eine Unterkunft, die Rebecca mit einer Realität konfrontierte, von der sie nie etwas geahnt hatte. Es gab keine Zimmer, sondern in jedem Stockwerk nur riesige Schlaflager, wo Menschen beiderlei Geschlechts und sogar Kinder überall herumlagen, wo sie eine Möglichkeit fanden: auf einfachen Bettgestellen, Matratzen oder nur auf Stroh. Obwohl alle Fenster und Türen offen standen, hing ein durchdringender Gestank in der Luft, von dem ihr übel wurde. Kerzen gaben ein spärliches Licht, und sie sah mehr als nur ein Kind, das sie teilnahmslos anstarrte.
»Es tut mir leid«, sagte Julian leise. »Aber wir haben gerade noch Geld, um etwas zu essen.«
»Entschuldige dich nicht. Es ist nicht deine Schuld.« Sie klammerte sich an seinen Arm, als eine Ratte furchtlos an ihnen vorbeihuschte. »Können wir nach einem Wirtshaus suchen, ehe wir schlafen gehen?«
»Natürlich. Aber zuerst muss ich mir den Ruß abwaschen.«
Er bezahlte einen halben Penny für ein paar Lappen und eine Schüssel, schöpfte Wasser aus dem Brunnen auf dem Hof, der von sämtlichen Mietern der umliegenden Häuser genutzt wurde. Er wusch sich das Gesicht, so gut es eben ging, und dann nahm sie ihm den Lappen ab, um die letzten Rußspuren zu entfernen. Sie sah ein paar Verletzungen, die zum Glück nicht schwer wiegend waren: eine versengte Augenbraue, ein paar Kratzer, einige rote Stellen, jedoch keine richtigen Verbrennungen. Er hatte Glück gehabt.
Sein Gesicht ganz dicht vor ihrem suchte er ihren Blick, wobei seine Augen nichts preisgaben von dem, was ihm durch den Kopf ging. »Dieses dreckige Hemd kann ich nicht anbehalten«, sagte er schließlich und zog es aus.
Sie merkte, dass sie vor Verlegenheit rot anlief, weil er sich in aller Öffentlichkeit halb angezogen zeigte, aber in dieser Umgebung war das sicher nichts Ungewöhnliches. Sie biss sich auf die Unterlippe und sagte nichts, als er das einzig verbliebene saubere Hemd aus der Tasche holte. Wie sollte sie bloß die Sachen säubern, solange sie in solch einer Unterkunft hausten?
Tröstend legte er einen Arm um sie, und sie genoss seine Kraft und seinen Schutz, während sie sich auf die Suche nach einem Wirtshaus machten. Sie schämte sich, dass sie bei all ihren überspannten Träumen von interessanten Abenteuern nie auf die Idee gekommen war, wie manche Menschen ihr Leben fristen mussten, ohne jede Hoffnung auf Besserung. Und sie fand es spannend, dem Luxus zu entfliehen, reich gedeckten Tafeln, warmen, gemütlichen Zimmern und schönen Kleidern! Wie gedankenlos. Am liebsten hätte sie das Gesicht an seiner Schulter vergraben, damit sie der Wahrheit über sich selbst nicht ins Gesicht zu schauen brauchte.
Zu beider Erleichterung erwies sich zumindest das nächste Wirtshaus, an dem sie vorbeikamen, als einigermaßen annehmbar. Zumeist sauber gekleidete Männer sowie einige Frauen nahmen an den Tischen ihre Abendmahlzeit ein. Rebecca bat den Wirt, ihnen einen Platz in einer ruhigen Ecke zuzuweisen, und so saßen sie dann zusammen auf einer Bank, deren hohe Rückenlehne sie vor Augen und Ohren der anderen Gäste im Raum schützte. Überdies herrschte ein ziemlicher Lärm, sodass es nahezu unmöglich war, ihre Gespräche zu belauschen. Zu ihrer Erleichterung schien sich ohnehin niemand für sie zu interessieren, denn kein anderer Gast schaute in ihre Ecke.
Während sie auf ihre Bestellung, Hammelfleisch mit gekochten Kartoffeln, warteten, blieb sie dicht neben ihm sitzen, ohne seinen Arm loszulassen. Sein Blick schien ins Leere zu gehen, und seine Miene war ausdruckslos.
»Julian?«
Er blinzelte ein paarmal, ehe er sie anschaute.
»Windebank ist also dein Onkel?« Sie spürte, wie sein Körper sich verkrampfte. »Nein, du kannst jetzt nicht schweigen. Das betrifft mich ebenfalls. Und wenn dieser Mann weiß, dass wir über seine Verbrechen Bescheid wissen und wir uns deshalb in Gefahr befinden, sollte ich alles wissen.« Als er immer noch nichts sagte – nur ein Muskel an seiner Wange zuckte –, fügte sie sanft hinzu: »Du fühlst dich besser, wenn du darüber redest. Erzähl es mir, Julian. Ich möchte dir helfen.«
Er holte tief Luft und atmete dann langsam aus. »Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.«
»Bist du dir sicher, dass es sich bei diesem Windebank um deinen Onkel handelt?«
»Der Name ist selten. Und er hatte die Möglichkeit, an den Diamanten zu kommen. Nur hätte ich nie vermutet
Weitere Kostenlose Bücher