Ein verführerischer Schuft
wieder herunter und zog sich seinen Rock an. Er nahm das Buch, wog es kurz in der Hand - und gab dann der Versuchung nach, es kurz durchzublättern.
Es war genau das, was er zu finden gehofft hatte - eine kleine Kladde, wie sie Glücksspieler oft führten, in dem die Gewinne und Verluste verzeichnet waren. Das Buch war beinahe voll; die Einträge reichten zurück bis 1810. Jeder Eintrag bestand aus einem Datum, den Initialen des Mitspielers und manchmal auch den Namen des Spiels - Whist, Piquet oder Hazard - sowie die Summe, um die es ging. Letztere Angabe stand in einer von zwei Spalten am rechten Rand der Seite - entweder Gewinn oder Verlust.
In Ruskins kleinem schwarzen Buch überstiegen die Verluste die Gewinne um ein Vielfaches. Dennoch wurden die Zahlenreihen mit Gewinnen und Verlusten, die am Ende jeder Seite sauber aufaddiert wurden, alle paar Monate wieder ausgeglichen - durch einen Eintrag, der wieder und wieder auftauchte und der als hoher Gewinn verzeichnet war.
Tony blätterte in dem Büchlein zurück - die regelmäßigen Gewinne begannen Anfang des Jahres 1812. Obwohl sie immer erklecklich waren, unterschieden sich die einzelnen Summen; die Initialen, die hinter jeder Zahlung standen, aber nicht.
A. C.
Tony spürte, wie sich seine Züge verhärteten. Er blickte hoch, seine Gedanken wirbelten durcheinander; er schloss das Buch und steckte es in seine Rocktasche. Einen Augenblick später riss er sich aus seiner Starre und ging zur Tür.
Er war bereits auf der Treppe auf dem Weg nach unten, als der alte Mann den Kopf zum Zimmer unten herausstreckte. Er schaute Tony aus schmalen Augen an, erkannte ihn dann und drehte sich wieder zurück.
Tony ergriff die günstige Gelegenheit beim Schopfe.
»Einen Augenblick, Sir, wenn Sie so freundlich sind.«
Der alte Mann wandte sich wieder zu ihm um.
Tony setzte eine leicht geplagte Miene auf.
»Hat es irgendwelche anderen Leute gegeben, die sich nach Mr. Ruskins Tod für seine Wohnung interessiert haben?«
Der alte Mann dachte nach, dann erklärte er:
»Nun, nicht seit Sie da waren, aber vorher war da ein Gentleman, in der Nacht, in der Mr. Ruskin starb. Es war spät, daher war es wohl nach seinem Tod.«
»Dieser Herr, war das einer von Mr. Ruskins Freunden? Ein Bekannter, der immer mal wieder herkam?«
»Nicht, dass es mir aufgefallen wäre. Ich jedenfalls habe ihn nie zuvor gesehen.«
»Was ist in dieser Nacht geschehen?«
Der alte Mann stützte sich auf seinen Stock; er blickte Tony mit Augen an, in denen ein gewisses Maß an Bauernschläue stand.
»Es war spät, das sagte ich ja schon. Der Mann hat höflich angeklopft, und da es noch nicht nach Mitternacht war, habe ich ihn eingelassen. Ich war mir sicher, dass Mr. Ruskin aus war, aber der Herr hat darauf bestanden, nach oben zu gehen und sich selbst zu überzeugen … Ich konnte nicht erkennen, dass es in irgendeiner Weise schaden würde, daher habe ich ihn gelassen. Er ist die Stufen hinaufgegangen und eine Minute später hörte ich die Tür schließen, sodass ich da dachte, Ruskin müsse von mir unbemerkt heimgekommen sein. Ich bin wieder in mein Zimmer hier gegangen und habe mich ans Feuer im Kamin gesetzt.«
Tony rührte sich.
»Ruskin war nicht zurückgekommen. Er hat den größten Teil der Nacht auf einer Abendgesellschaft in der Green Street verbracht. Dort wurde er dann im Garten ermordet.
»Ja. Das haben wir am nächsten Tag dann auch gehört. Dennoch ist der Gentleman, der an dem Abend Mr. Ruskin besucht hat, über eine Stunde geblieben. Ich habe ihn herumgehen hören; er war nicht laut oder hat gepoltert, aber hier ist es nachts sehr ruhig. Man hört Dinge.«
»Haben Sie gesehen, als er wieder ging?«
»Nein - ich hatte die Tür für die Nacht versperrt und bin zu Bett gegangen. Man kann dann zwar noch hinaus, aber hinter einem schließt sich die Tür.«
»Können Sie mir den Herrn beschreiben?«
Der alte Mann musterte Tony, dann antwortete er mit einer leichten Grimasse:
»Ich erinnere mich nicht an viel - dazu gab es ja auch keinen Grund. Aber er war einigermaßen groß, allerdings nicht so wie Sie, und außerdem war er kräftiger gebaut. Eine gute Figur. Er war gut gekleidet, das weiß ich noch - sein Mantel hatte einen dieser modischen Fellkragen, wie Locken.«
Persianer. Ein Bild blitzte in Tonys Gedächtnis auf - der flüchtige Blick, den er aus der Entfernung auf den Mann erhascht hatte, der die Gärten von Amery House verlassen hatte, als er unter einer Straßenlaterne
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