Ein verführerischer Schuft
hatte sie in der Menge noch nicht finden können. Stattdessen führte er sie zu einem Sofa, das etwa in der Mitte der Wand des langgestreckten Saales stand. Lady Amery saß darauf zusammen mit einer weiteren älteren Dame, die Alicia bereits kennengelernt hatte.
Nervosität erfasste sie; ihre Finger zuckten auf Tonys Ärmel. Sogleich legte er seine Hand darüber. Er brachte sie zum Sofa, verbeugte sich artig vor den beiden Damen. »Tante Félicité. Lady Osbaldestone.«
Ganz aufrecht sitzend neigte Lady Osbaldestone königlich das Haupt.
»Ich glaube, ihr habt beide bereits Mrs. Carringtons Bekanntschaft gemacht?«
Alicia knickste.
»Allerdings.«
Lady Amery griff nach ihren Händen. Ihre Augen strahlen voller Herzlichkeit.
»Meine Liebe, ich muss mich für diese schreckliche Sache entschuldigen. Ich bin ganz außer mir, dass es Ihre Anwesenheit auf meiner Soirée war, die zu solchen Unannehmlichkeiten geführt hat. Himmel, man sollte meinen, es gibt zahllose Witwen in der guten Gesellschaft, und wie wir alle wissen, haben viele von ihnen irgendetwas zu verheimlichen. Es ist ja so albern von dieser Bourgeoise« - sie machte eine vage verächtliche Handbewegung zur Menge - »zu glauben, Sie hätten irgendetwas mit Mr. Ruskin zu schaffen, abgesehen von dem Üblichen, was sich nun einmal im gesellschaftlichen Umgang nicht vermeiden lässt.«
Ihre Ladyschaft machte eine Pause; ihre klaren Augen ruhten auf Alicias Gesicht, und sie drückte ihr verstohlen die Hand.
»Tony sagt, Sie hätten mit Mr. Ruskin geplaudert, aber es sei nur ein Gespräch über gemeinsame Bekannte vom Lande gewesen.«
Im Flur, kurz bevor sie den Ballsaal betraten, hatte er sie rasch in das eingeweiht, was er seiner Patentante erzählt hatte. Alicia sehnte sich danach, sich umzudrehen und ihn mit einem finsteren Blick zu bedenken; er hatte zu erwähnen vergessen, dass er diese kleine Begegnung für sie arrangiert hatte.
»Ach ja?«
Zu ihrer Erleichterung hielt der äußere Schein, den zu wahren sie über die letzten Wochen perfektioniert hatte. Sie lächelte freundlich mit genau der richtigen Mischung aus Zuversicht und schuldloser Verwunderung.
»Wir kommen aus der gleichen Gegend. Obwohl wir uns erst vor Kurzem das erste Mal begegnet sind, hier in der Stadt, haben wir eine Reihe gemeinsamer Bekannter. Darüber haben wir uns an dem Abend in Ihrem Salon unterhalten.«
Lady Osbaldestone schnaubte kurz und zog damit Alicias Aufmerksamkeit auf sich. Die alten schwarzen Augen, die sie maßen, waren ein Gutteil schärfer und härter als Tonys.
»In diesem Fall müssen Sie mit denen Nachsicht haben, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als ihre Zungen zu wetzen und Unheil zu stiften. Meiner Meinung nach haben sie nur Stroh im Kopf.«
»Und«, fuhr sie dann fort, »ich frage Sie, selbst wenn Ruskin irgendeine Witwe erpresst haben sollte, was hat das schon zu sagen?« Sie schnaubte wieder abfällig.
»Die Vorstellung, dass eine Dame im Abendkleid aus ihrem Retikül ein Stilett zückt und ihn erdolcht, ist einfach lachhaft. Einmal abgesehen von der Tatsache, dass er kein Weichling war und kaum stillgestanden hätte, während sie auf ihn einstach, wo hätte sie die Klinge verbergen sollen?«
Die schwarzen Augen richteten sich auf Tony, dann wieder auf Alicia.
»Das wüsste ich wirklich gerne. Haben Sie je so ein Ding gesehen? Pah! Das ist schlicht nicht möglich.«
Offensichtlich genoss Tony die Unterhaltung; er neigte den Kopf.
»Ganz genau. Ich habe gehört, die Behörden suchen nach einem Mann, der etwa so groß wie Ruskin ist.«
»Wirklich?« Lady Osbaldestones Miene hellte sich auf.
»Vielleicht nicht unbedingt aufschlussreich, aber immerhin interessant. « Sie erhob sich; obwohl sie einen Gehstock hatte, benutzte sie ihn nur selten.
Sie war eine große Frau, größer als Alicia; ihr Gesicht war nie schön gewesen, aber noch nicht einmal das Alter konnte die Kraft der vornehmen Züge mildern. Ihre bohrenden schwarzen Augen ruhten auf Alicia, dann hoben sich ihre Mundwinkel, und sie schaute Tony an.
»Richte deiner Mutter meine Grüße aus, wenn du dich das nächste Mal dazu aufraffst, ihr zu schreiben. Sag ihr, Helena wünsche ihr alles Gute und sende ihr liebe Grüße.« Sie hob den Stock und stieß ihn damit an.
»Vergiss das nicht.«
»Selbstverständlich nicht.« Ohne den Stock aus den Augen zu lassen verneigte Tony sich elegant.
»Das würde ich nie wagen.«
Mit einem Funkeln in den Augen nahm Lady
Weitere Kostenlose Bücher