Ein verfuehrerischer Tanz
gehen. Lily war eine vornehme, kultivierte Lady und stammte aus einer der angesehensten englischen Adelsfamilien. Julian Bellamy hingegen war ein Emporkömmling von zweifelhafter Herkunft. Grundsätzlich kein Beinbruch, dachte Amelia, gleichwohl vertraute sie ihm nicht. Mr. Bellamy war sicherlich nicht in Lily verliebt, sonst hätte er sich in Leos Todesnacht nicht mit einer verheirateten Frau eingelassen.
»Bei uns bist du immer willkommen«, fuhr Amelia fort. »Spencer und ich freuen uns, wenn du uns besuchen kommst.«
»Das ist sehr nett von euch. Ich hab dir gleich gesagt, dass er ein guter Ehemann ist.«
Amelia errötete bis zu den Haarwurzeln.
»Ja, das stimmt. Es brauchte zwar etwas Zeit, aber inzwischen kann ich das bestätigen.«
»Das freut mich für dich.«
Amelia strahlte glücklich. Allerdings erschien es ihr unangemessen, über ihr junges Glück zu sprechen, da Lily um ihren Bruder trauerte.
Schmerzvoll krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie hoffte inständig, dass Spencer und Jack sich in naher Zukunft aussöhnten. Obwohl ihr Mann seine übliche Reserviertheit beibehielt, bemerkte Amelia, dass er sich zunehmend für das ländlich schöne Briarbank erwärmte. Inzwischen hatte er ihr erzählt, dass er in mehreren britischen Forts in Kanada aufgewachsen war und dann urplötzlich den vornehmen Herrensitz Braxton Hall übernehmen musste. Ein gemütliches Heim und eine liebevolle Familie hatte er nie kennengelernt. Nach ihrem Aufenthalt hier begriff er gewiss, warum Amelia ihre Angehörigen nicht im Stich ließ.
Sie fragte:
»Und es macht dir wirklich nichts aus, mit Claudia ein Zimmer zu teilen? Das Cottage ist leider sehr klein, wir haben nur vier Schlafkammern. Aber wenn du möchtest, können wir jemanden …«
»Nein, nein«, unterbrach Lily sie. »Ich bin froh über ein bisschen Gesellschaft. Schade, dass sie so verschlossen ist.«
Amelia seufzte.
»Sie spricht also auch nicht mit dir? Ich weiß nicht, wie man an das Mädchen herankommen soll.« Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil sie Claudia am Nachmittag aus der Bibliothek gescheucht hatte. Ob Spencer einen besseren Draht zu ihr hatte? Die Kutschen waren kurz darauf eingetroffen, und er hatte wohl keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen. »Ich muss zugeben, dass ich dich deshalb zu ihr ins Zimmer gesteckt habe. Vielleicht hast du mehr Glück bei ihr als ich. Ich habe es wieder und wieder versucht, mich mit ihr zu befreunden, aber ich stoße auf Granit.«
Frustriert knetete sie den Teig durch. Sie könnten so viel zusammen unternehmen: am Fluss spazieren gehen, ein Duett am Klavier spielen, vielleicht sogar einen Einkaufsbummel machen, aber das Mädchen wies jeden Vorschlag zurück. Amelia wusste sich keinen Rat mehr.
Nachdem sie den Brotteig zum Gehen beiseitegestellt hatte, klopfte sie sich das Mehl von den Händen und wandte sich zum Spülbecken um.
Hinter ihr hörte sie Lily sagen:
»Du? Hier? Was für eine Überraschung!«
Waren die Männer schon vom Angeln zurück? Mr. Bellamy konnte es nicht sein – der hämmerte weiter auf die Klaviertasten ein. Sie trocknete ihre Hände ab und drehte sich um.
Unvermittelt bekam sie weiche Knie.
»Hallo, Amelia.«
»Jack?« Einen Herzschlag lang glaubte sie, ein Gespenst zu sehen. Ein Phantombild von dem Jack, der mit vierzehn in sechs Wochen in die Höhe geschossen war. Ihr Bruder hatte damals gegessen wie ein Scheunendrescher. Aber natürlich hatte sie weder ein Gespenst noch den halbwüchsigen Jungen von einst vor sich. Unschlüssig stand Jack in der Küche, wie ein Fremder im eigenen Haus. Er sah dünn und ausgezehrt aus. Die Kleider schlabberten um seinen Körper, gaben ihm ein jungenhaft verletzliches Aussehen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sich seit Tagen nicht mehr rasiert.
Ihre Augen wurden feucht. Mit einem Mal liefen ihr Tränen über die Wangen.
»Hallo, Schwesterherz. Begrüßt man so seinen Lieblingsbruder?«
»Jack.« Sie warf die Arme um seinen Hals und drückte ihn fest an sich. Es brannte ihr auf den Lippen, ihn zu fragen, was mit ihm passiert war. Wie hatte er so tief sinken können? Herrje, weil sie ihn schmählich im Stich gelassen hatte. Ihre selige Mutter würde ihr das niemals verzeihen und ihr verstorbener Bruder Hugh auch nicht. »Ich freue mich so, dass du hier bist.« Sie umschlang ihn noch inniger. Dieses Mal ließ sie Jack nicht wieder gehen, egal, wie Spencer dazu stand. Erst musste Jack ihr alles erzählen, und dann würden sie
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