Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
Sekunden lang blieb er stumm. Es war so still im Raum, dass Mary hören konnte, wie er verzweifelt schluckte. Nach einer Ewigkeit räusperte er sich vorsichtig. »Äh … nun, die Sache ist die … wir wollten – äh – hmm. Da ist noch die Sache mit …«
»Mr Easton«, sagte Mrs Thorold knapp. Alle Köpfe drehten sich zu ihr hin und sie sank etwas in ihrem Sessel zusammen. »Er stellt eine ausgezeichnete Chance für Angelica dar«, fuhr sie mit schwächerer Stimme fort, »und ist sehr von ihr eingenommen.«
Thorold runzelte die Stirn. »Es wäre schade, Easton enttäuschen zu müssen. Erst heute habe ich ihn gesehen, und er sagte mir, wie sehr er sich auf das Fest freut.«
»Ein vermögender Verehrer«, ließ Mrs Thorold wissen, »ist mal eine angenehme Abwechslung gegenüber den vielen Mitgiftjägern, die hier ein und aus gehen.«
Thorold machte ein zufriedenes Gesicht. »Hat mir gesagt, dass er hinter einem Vertrag mit Indien her ist! Kluger Kerl … zurzeit ein Land unbegrenzter Möglichkeiten.«
Mary beugte sich etwas vor, aber mehr sagte er nicht.
Michael sah zur Decke hoch.
Thorold nickte kurz. »Also gut. Die Gesellschaft findet statt.«
Drei
Samstag, 8. Mai
U m zehn Uhr waren alle Gäste der Thorolds eingetroffen. Aufgrund des Wetters mieden sie das Zelt in dem wunderbar beleuchteten, aber übel riechenden Garten, und folglich war es im Haus sehr eng. Obwohl in den Ecken der Räume zusätzliche Diener mit großen Fächern standen, war die Luft dick und abgestanden. Die Blumensträuße, die massenweise herumstanden, sahen schon etwas mitgenommen aus, was man von den Dienern auch sagen musste.
Abgesehen von der Hitze war es jedoch eine prächtige Gesellschaft. Neben den Gaslichtern waren Dutzende langer Wachskerzen angezündet worden, um die Räume taghell erscheinen zu lassen. Die jungen Damen trugen gerüschte weiße Kleider, die üppig mit Bändern und Blumen besetzt waren. Verheiratete und ältere Frauen trugen kräftigere Farben. Alle zeigten jedoch tiefe Dekolletés und protzige Edelsteine glitzerten auf mehreren Dutzend nackter Brustbeine. Die Herren in ihren schwarzen Smokingjacken und mit weißen Krawatten bildeten einen dramatischenKontrast dazu. Mary starrte in die lachende, schnatternde, flirtende, berauschte Menge. Sie konnte kaum glauben, dass knarrende Holzschiffe und unter harter Arbeit ächzende Matrosen einen solchen Luxus hervorbrachten.
Vor heftiger Ungeduld verkrampften sich ihre Eingeweide. Sie hatte jetzt vier Tage bei den Thorolds verbracht. Vier Tage hatte sie Angelica Gesellschaft geleistet. Vier Tage ihre feindseligen Bemerkungen ertragen und so getan, als würde sie ihre üble Laune nicht bemerken. Vier Tage eingesperrt in diesem dunklen, stickigen Haus, das Mrs Thorold jeden Nachmittag in der Kutsche verließ. Und wozu das Ganze? Die einzigen Informationsfetzen, die sie mitbekommen hatte, waren lächerlich banal. Zum Beispiel, dass Thorold keinen männlichen Erben hatte. Sein einziger Sohn, Henry junior – der schwächliche Junge auf dem Porträt –, war vor einigen Jahren gestorben. Demzufolge war aus dem aufstrebenden Unternehmen
Thorold & Sohn
das etwas bescheidenere
Thorold & Co.
geworden. Und im letzten Monat war das Stubenmädchen wegen »Unsittlichkeit« entlassen worden. Sie war damals im sechsten Monat schwanger gewesen, und in der Küche wurde gemunkelt, dass Thorold der Vater sei.
Es wurde immer offensichtlicher, dass Thorold und Gray zu Hause niemals über Geschäfte sprachen – zumindest nicht in Anwesenheit der Damen. Und es blieb nur noch so wenig Zeit. Anne Treleaven und Felicity Frame sahen vor, dass Marys Einsatz in etwasmehr als einer Woche abgeschlossen sein würde. Sie hatten ihr keine weiteren Anweisungen oder Informationen zukommen lassen, was hieß, dass auch sie nichts Neues gehört hatten – zumindest nichts, was Mary hätte wissen müssen. Auch die Hauptagentin war nicht mit ihr in Verbindung getreten, was bedeutete, dass sie Marys Hilfe nicht brauchte. Sie durfte weder mit der Hauptagentin noch mit der Agentur Kontakt aufnehmen, solange sie nichts Handfestes erfuhr. Und – um den Kreis zu schließen – der einzige Weg, auf dem sie etwas herausfinden würde, war der, sich aktiv nach Beweisen für Schmuggelgeschäfte und dergleichen umzusehen. Und das – liebe Güte –, das wäre ja so viel interessanter, als unbequeme Kleider zu tragen und Fruchteis für unhöfliche ältere Damen zu
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