Ein verruchter Lord
aufgeschnappt haben. Kein zurechnungsfähiger Mensch würde ein Kind veranlassen, im fünften Stock aus dem Fenster zu klettern. » Und wo ist der Mann jetzt? «
Melody lehnte sich in dem Lastenaufzug zurück. » Tot « , sagte sie ungerührt. » Maddie sagt, ich soll sagen, dass er verschieden ist, aber mein Papa sagt auch einfach tot. « Sie strich die Schleife, die um die Taille ihres Kleidchens gebunden war, glatt und streckte dabei ihren Bauch vor, damit sie sie besser sah.
Laurel hätte sie am liebsten in den Arm genommen und gedrückt und sie nie, nie mehr losgelassen, doch sie durfte sie nicht verschrecken. Um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen, setzte sie sich im Schneidersitz vor den Lastenaufzug auf den Boden, sodass sie zu Medody aufblicken musste. » Wer ist Maddie? « , fragte sie beiläufig.
Ihre Tochter blinzelte sie an. » Maddie ist Lady Blankenship. Sie ist eine von meinen Mamas. «
Mamas. Obwohl glühend heißer Schmerz sie durchfuhr, wahrte Laurel ihre freundlich neutrale Miene. » Hast du denn mehr als eine Mama? «
Melody spielte an einem Faden ihrer Schleife herum. » Maddie ist die eine Mama und Pru die andere – nur eine richtige Mama, die hab ich nicht. «
Laurel verstand genau, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte. Es gab Frauen in ihrem Leben, die sie bemutterten, sich um sie kümmerten, ohne jedoch vorzugeben, die Mutter zu sein. Trotz ihres Grolls verspürte Laurel zumindest unterschwellig eine gewisse Dankbarkeit gegenüber dieser Maddie und dieser Pru.
Obwohl sie mehr als einmal versucht war, Melody die Wahrheit zu erzählen, merkte Laurel, dass es nicht der passende Moment war. Sie konnte ja von Glück sagen, wenn es ihr überhaupt gelang, ihr eigenes Kind aus einer Kiste in der Wand zu locken.
» Ich habe Äpfel und Käse. Magst du etwas? «
» Hast du auch Zitronenkuchen? «
Laurel fluchte stumm. » Ich bitte um Entschuldigung, Lady Melody. Nein, den habe ich leider nicht. Ich werde deshalb ein ernstes Wort mit dem Koch reden, dessen können Sie gewiss sein. «
Melody kicherte über die vornehme Ausdrucksweise, und Laurel fühlte sich, als habe ihr gerade jemand ein kostbares Geschenk gemacht.
» Magst du nicht trotzdem hereinkommen, ein bisschen essen und ein bisschen mit mir reden? Ich bin manchmal etwas einsam. « Laurel neigte den Kopf und lächelte sie an. Kam sich vor, als würde sie einen verirrten Vogel auf ihre Hand zu locken versuchen.
Und ein bisschen erinnerte sie die Situation an Jack, der sie vor Kurzem gegen ihren erklärten Willen zu etwas überreden wollte. Doch diese Parallele verdrängte sie sogleich wieder – solche Gedanken durfte sie erst gar nicht an sich heranlassen.
Aufmerksam beobachtete sie stattdessen Melody, die sie mit zusammengekniffenen Augen betrachtete und langsam einen Lumpen an ihr Gesicht hob, sich einen der dreckigen Zipfel in den Mund steckte und nachdenklich darauf herumkaute. Laurel sah ihr mit nur mühsam unterdrücktem Entsetzen zu. Himmel, was war das für ein Ding?
Als sie das Knäuel genauer musterte, entdeckte sie auf einer Seite aufgestickte Augen. » Wollen Sie mir nicht Ihre Freundin vorstellen, Lady Melody? «
Das Kind hielt ihr das schlaffe graue Ding entgegen. » Gordy Anne. «
Laurel beugte sich vor und streckte die Hand aus, um das Lumpenbündel vorsichtig entgegenzunehmen. Großer Gott, konnte Jack dem Kind keine ordentliche Puppe kaufen? Sie nahm den feuchten Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger und schüttelte ihn mit ernster Miene. » Es ist mir ein Vergnügen, Lady Gordy Anne. «
Wieder kicherte Melody und ließ ihre kleinen, in Stiefel steckenden Füße aus dem Lastenaufzug baumeln, strich geziert ihr verschmutztes Kleidchen glatt und streckte ihre Arme aus. » Heb mich runter. «
Laurel sprang so schnell auf, dass ihr ein wenig schwindelig wurde, legte dann die Hände um ihre kleine Tochter und nahm sie auf den Arm. Beschreibungen wie » fest « und » kompakt « und » warm « huschten durch ihren Kopf, bevor sie hinweggeschwemmt wurden von einer Flut der Gefühle, die nur noch für einen einzigen Gedanken Platz ließ.
Ich liebe sie.
Jahre voller Kummer und Leid schienen für den Moment vergessen, wurden überlagert von ihrem Glück.
Sie gehört zu mir, und ich liebe sie.
Ich würde für sie sterben.
Ich würde für sie töten.
Sie hatte ein Kind zur Welt gebracht, ohne je Mutter gewesen zu sein. Hatte ihre Tochter verloren und sich nach ihr gesehnt und sie betrauert. Und jetzt war sie
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