Ein verruchter Lord
den Finger aus dem Mund und blickte Jack mit sorgenvoll gerunzelter Stirn an. » Was ist mit dem bösen Mann? «
Er kniete sich neben sie und sah ihr ins Gesicht. » Der böse Mann ist tot. «
Melody blinzelte. » Versprochen? «
Jack nahm ihre kleine Hand in seine große, und Laurels Herz schmolz, als sie bemerkte, dass ihre Daumen exakt dieselbe Form hatten.
» Melody, ich gebe dir mein Ehrenwort, dass der böse Mann tot ist. Wilberforce hat auf ihn geschossen, dann fiel er vom Dach und war tot. Und später wurde er vergraben. «
Laurel blinzelte. War die Geschichte vom bösen Mann doch kein Produkt von Melodys blühender Fantasie, wie sie geglaubt hatte? Sie sah Jack mit gerunzelter Stirn an und formulierte stumm eine Frage. Wer?
Jack schüttelte rasch den Kopf. Später.
» Ich schätze es sehr, Bescheid zu wissen « , sagte sie laut, als setze sie ein begonnenes Gespräch fort. » Ich möchte informiert sein. Besonders wenn es Personen betrifft, die mir am Herzen liegen. «
Jack warf ihr einen warnenden Blick zu. » Es gibt ein Buch, das ich dir ausleihen sollte. Eine Geschichte über eine Frau und einen Wolf, der sie verfolgte. «
Melody nickte. » Meiner Dame Schatten « , sagte sie. » Onkel Colin hat es für mich geschrieben. «
» Aha, sehr aufschlussreich « , antwortete Laurel mit einem leisen Anflug von Sarkasmus in der Stimme. » Da ich ja genau weiß, wer Onkel Colin ist … « Ihr Blick zu Jack unterstrich die Ironie ihrer Worte.
Dann schaute sie wieder Melody an. » Also, willst du heute Nacht bei mir bleiben, meine Kleine? «
Das Kind schniefte ein letztes Mal und kuschelte sich glücklich in Laurels Arm. » Darf Gordy Anne auch bleiben? «
» Natürlich. «
» Gordy Anne ist ihre Puppe. Eine Art Puppe. « Jack rieb sich das Kinn und schaute auf das ausgesprochen unappetitliche Lumpenbündel in Melodys Arm. » Eigentlich handelt es sich um ein Halstuch, aber das ist eine lange Geschichte. «
Laurel drückte ihre Tochter an sich. » Ich glaube, es gibt so vieles nachzuholen « , sagte sie und drehte sich erneut zu Jack um, der sie und das Kind ernst betrachtete. Sie konnte seine Gedanken lesen, wusste, was er bei dem Anblick dachte.
Wie kann ich die beiden einander vorenthalten?
Genau dasselbe hatte sie sich vor wenigen Momenten selbst gefragt, als sie Vater und Tochter zusammen gesehen hatte. Trotz allem, was geschehen war, fiel es ihr bisweilen schwer, ihre Gefühle von Liebe und Hass noch richtig voneinander zu trennen.
» Werden sich die Leute nicht fragen, wo sie ist? « , flüsterte sie ihm zu.
» Niemand wird mich fragen « , gab er knapp zur Antwort.
Sie runzelte die Stirn. » Wirklich nicht? «
Ein schiefes Lächeln umspielte seinen Mund. » Es macht nicht viel Sinn, jemanden etwas zu fragen, der nie spricht. «
Sie zog eine Augenbraue hoch. » Du? Ich bringe ja kaum ein Wort dazwischen! «
Melody nickte. » Mit mir redet Papa auch. « Sie spielte mit dem dicken Zopf, zu dem Laurel ihr Haar für die Nacht geflochten hatte. » Nur mit mir und Mama « , sagte sie schläfrig.
Jack stand auf. » Ich lasse Mama und dich jetzt schlafen. Gute Nacht, Melody. Gute Nacht, Laurel. «
Er drehte sich um und verschwand so leise, dass Laurel zu verstehen begann, warum er des Nachts ihr Zimmer umräumen konnte, ohne dass sie etwas davon bemerkte. Vermutlich die notwendige Überlebensstrategie eines Soldaten. Sie lächelte auf ihre Tochter hinab, deren große Augen jetzt wie kleine Schlitze aussahen. Wie immer wenn sie schlief, schob sie die Unterlippe leicht vor, und eine einzelne Träne glitzerte auf ihrer runden Wange. Laurel küsste sie weg.
Heute Nacht hatte Jack ihr den Himmel auf Erden bereitet!
In ihrer dunklen Kammer schlug Laurel blinzelnd die Augen auf und fragte sich, warum sie aufgewacht war. Lag es am Mond, der hell durchs Fenster schien?
Dann ertönte ein sanftes kindliches Schnarchen vom Kissen neben ihr. O ja. Sie war nicht allein. Lächelnd streckte sie die Hand aus, um die verwuschelten Locken ihrer kleinen Tochter zu streicheln. Melody schlief zusammengerollt mit rosigen Wangen, auf denen die dichten, dunklen Wimpern lagen. Nach den Aufregungen des Tages wirkte sie jetzt völlig entspannt. Sie war so ein schönes Kind.
Mein Kind. Meine Melody.
Von Neuem wurde Laurel von Freude erfasst und begann wieder an eine bessere Zukunft zu glauben, die sie für alle Entbehrungen der vergangenen Jahre entschädigen würde. Zwar hatte sie nie die Hoffnung aufgegeben,
Weitere Kostenlose Bücher