Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
er warten gelassen hatte, die für ihn gekocht hatte, die versetzt worden war, jedenfalls beinahe. Und angeblich war sie diejenige, die ihn hassen sollte. »Ich habe dir nie etwas vorgemacht. Es ist nicht meine Schuld, dass du angenommen hast, ich wäre mit Edward Westerman verwandt, nachdem du entschieden hattest, dass ich nicht nur einfach eine blöde Touristin bin.«
Betrübt sah er zu ihr auf. »Aber du hast das nie klargestellt. Wo bleibt die Ehrlichkeit, Tess? Das Vertrauen? Ich dachte …«
»Ich auch.« Mit einem Mal wäre Tess am liebsten in Tränen ausgebrochen. Es stimmte, sie hätte ihm erzählen können, wer sie war. Sie hatte nur keine Lust gehabt, sich in eine alte, alberne Familienfehde hineinziehen zu lassen, die nichts mit ihr zu tun hatte. Wieso spielte sie nach der langen Zeit überhaupt noch eine Rolle? Aber sie machte sich etwas vor. Sie hatte etwas mit ihr zu tun, denn sie war wichtig für Menschen wie Tonino Amato und Giovanni Sciarra. Anscheinend waren sie in der Lage, einen Groll in alle Ewigkeit zu nähren. Wahrscheinlich hatte sie ihm deswegen nichts gesagt. Sie hatte gewollt, dass er die Person mochte, die sie war, und sie nicht wegen ihrer Herkunft ablehnte.
»Weißt du denn, was zwischen unseren Familien vorgefallen ist?«, wollte er von ihr wissen. Plötzlich schien er wieder nüchtern zu sein.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht genau.« Sie kannte nur Giovannis Version, und die hatte eine ganze Menge Lücken.
»Aber du weißt, dass es einen Streit gegeben hat?«
Sie nickte. Gott, fühlte sie sich erbärmlich. Was für eine Ernüchterung, nachdem zwischen ihnen so die Funken geflogen waren.
Er packte ihre Hände. »Warum hast du es mir nicht selbst gesagt? Wieso hast du zugelassen, dass ich es von …« Er verstummte.
»Wer?« Er hielt ihre Hände so fest, dass es schmerzte. Jetzt benahm er sich genau wie Giovanni Sciarra. »Wer hat es dir erzählt?« Sie riss ihre Hände los.
»Das ist nicht wichtig.«
Wahrscheinlich war es das nicht. Es hätte jeder sein können. Wenn Tonino auch nur ein wenig kontaktfreudiger wäre, hätte er davon gewusst, genau wie alle anderen. Wahrscheinlich war es Giovanni gewesen. Er hätte seine Freude daran gehabt, Salz in die Wunde zu streuen.
»Na schön«, sagte sie und schenkte den Kaffee ein. Schwarz für sie beide, beschloss sie. »Es tut mir leid, dass ich es dir nicht eher gesagt habe. Ich hätte es tun sollen. Aber lass uns die Sache doch mal nüchtern betrachten …«
Er sagte nichts. Sizilianern fiel es offensichtlich nicht leicht, ein Gefühl für Verhältnismäßigkeit zu entwickeln.
»Unsere Großväter hatten einen Streit«, sagte sie. »1940 oder wann das war.«
»1945«, verbesserte er sie. »Am 5. September.«
»Aha.« Dass er das Datum so genau wusste, war kein gutes Zeichen.
Dieses Mal nahm Tess seine Hände. »Aber was hat das mit uns zu tun? Das war doch …« Sie versuchte, es auszurechnen, aber in ihrem gegenwärtigen Zustand war sie damit überfordert. »Vor über einem halben Jahrhundert«, sagte sie. »Und vergiss nicht, dass mein Großvater und deiner einmal die besten Freunde waren.«
Ziemlich wacklig, aber offensichtlich äußerst konzentriert nahm er den Kaffee, den sie ihm eingeschenkt hatte. »Du, Tess«, sagte er, »bist mehr Engländerin als Sizilianerin. Sonst würdest du das verstehen.«
»Vielleicht könntest du es mir ja erklären?«, schlug Tess vor.
»Du meinst, ich soll dir die Geschichte erzählen?« Er kippte den heißen, schwarzen Kaffee hinunter. »Dann kennst du sie wirklich nicht?«
Wahrscheinlich war es das Beste, Diebstahl und Verrat nicht zu erwähnen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie, denn sie wollte seine Seite der Geschichte hören. »Also erzähl es mir.«
45. Kapitel
T onino holte tief Luft. »Also …«, begann er.
Immer, dachte Tess, immer erzählte er ihr Geschichten.
»Da war der Schatz , il tesoro , der dem Engländer, Edward Westerman, gehörte, ja?«
»Ja.« Sie nickte. So weit, so klar. »Aber woraus bestand er?«
»Ah.« Er seufzte. »Das weiß anscheinend niemand. Nur, dass er wertvoll war, sehr wertvoll, Tess.«
Noch ein Rätsel. Warum überraschte sie das jetzt nicht?
Tonino beugte sich vor. »Dein Wohltäter …« – er sah sich in dem Zimmer um, doch sie hatte das Gefühl, dass er eher neugierig als verbittert war –, »… sah sich gezwungen, während des Kriegs nach England zurückzukehren.«
Tess nickte. Die Erwähnung des Kriegs erinnerte sie an ihre
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