Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Großvater habe … wie drückt ihr das aus … sich verkauft.«
»Sich verkauft? Du meinst, er hätte den Schatz verkauft?« Warum sollte er? Jeder würde erfahren, was er getan hatte. Andererseits, wenn Il tesoro viel Geld wert war … Gier war eine starke Motivation. Im Sizilien der 1940er-Jahre hätte eine solche Summe ein Leben verändern können. Und wenn Edward Westerman eigentlich kein Besitzrecht darauf hatte, konnte er nicht allzu viele Einwände erheben, wenn er verschwand, schon gar nicht angesichts des Krieges, der vielen Plünderungen und allem. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Schatz diskret beiseitezuschaffen. Der Gedanke musste sehr verlockend gewesen sein.
»Verkauft, ja«, sagte Tonino seufzend. »Oder die Information darüber, wo er versteckt war. Ich weiß es nicht.« Er wirkte schrecklich niedergeschlagen. Tess wurde klar, dass sie nicht mehr wütend auf ihn war. Am liebsten hätte sie sich mit ihm versöhnt, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte.
»Ich nehme an, mein Großvater hat Enzo und den anderen geglaubt, oder?«, sagte sie. »Er hat deinen Großvater für schuldig gehalten?«
Tonino nickte. »Enzo Sciarra war ein böser Mensch«, meinte er. »Es hat ihm nicht gereicht, dass er den Tod meines Onkels Luigi zu verantworten hatte, nein, er beschuldigte auch noch meinen Großvater, Alberto Amato, der Untreue und des Diebstahls.« Er richtete sich gerader auf.
Diebstahl und Verrat, dachte Tess. Herrje. »Und wieso war Enzo Sciarra schuld an Luigis Tod, Tonino?«, fragte sie ihn.
»Folter.« Seine dunklen Augen zeigten keinerlei emotionale Regung, als er sie ansah. Er rieb sich die Narbe in seinem Gesicht, die dadurch ein wenig anschwoll und noch deutlicher hervortrat. »Die Sciarras hatten Schutzgeld eingefordert«, erklärte er. »Eine große Summe aus dem neuen Unternehmen meines Onkels, einem Restaurant mit Bar.« Er starrte sie weiter an.
Die Spannung im Raum war so groß, dass Tess kaum atmen konnte. »Schutzgeld?«
»Als er nicht zahlen konnte oder wollte, stattete Enzo ihm einen Besuch ab. So war es üblich. Vielleicht ging er weiter, als er vorgehabt hatte – keine Ahnung. Vielleicht wollte er ihm nur Angst einjagen. Aber nach seinem Besuch …« Toninos Stimme versagte beinahe.
»Ist Luigi gestorben«, flüsterte Tess.
Tonino nickte. »Ein Herzanfall, hieß es. Aber viele Dinge können dafür sorgen, dass einem das Herz stehen bleibt, verstehst du, Tess?«
Sie verstand. Sie hatte gerade den Hauch einer Ahnung davon bekommen, wie gefährlich manche dieser Männer sein konnten. Muma hatte nicht gescherzt, als sie sagte, Sizilien sei ein dunkler Ort. Es war wunderschön, ja. Aber es lag ein dunkler, dunkler Schatten darauf.
Tonino stand auf. »Die Sciarras haben vieles auf dem Gewissen«, sagte er leise.
»Was ist aus deinem Großvater geworden?«, erkundigte sich Tess.
»Er wurde der Untreue und des Diebstahls beschuldigt, und sein bester Freund misstraute ihm …« Er unterbrach sich. »Es hat ihn zerstört«, sagte er dann. »Alberto Amato ist nie wieder der alte gewesen. Und das kann ich deiner Familie nicht verzeihen«, verkündete er feierlich. »Den Mangel an Vertrauen, Tess. Die Entehrung unseres Familiennamens.«
»Ich verstehe.« Es hatte nichts mit ihr zu tun, und doch wusste sie, dass es für Tonino nicht darauf ankam. Sie hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, für ihren Großvater, den sie nie gekannt hatte, diesen Großvater, der geglaubt hatte, was alle ihm erzählten, der seinem besten Freund nicht vertraut hatte.
»Also …« Tonino machte eine Handbewegung, die besagte: Jetzt verstehst du, jetzt kennst du die ganze Geschichte.
Tess atmete tief durch. »Aber findest du es denn richtig, so lange einen Groll gegen meine Familie zu hegen?«, fragte sie. »Vor allem gegen ein Mitglied meiner Familie, das zu dieser Zeit noch nicht einmal auf der Welt war, nämlich ich?«
»Du wirst das nicht verstehen«, sagte er. »Aber unsere Familien waren so .« Er verhakte seine kleinen Finger miteinander. Tess erinnerte sich, dass Giovanni diese Geste ebenfalls benutzt hatte. »Deswegen ist es unverzeihlich.«
Außer natürlich, hätte sie am liebsten eingeworfen, es stimmte, was alle glaubten. Außer wenn Toninos Großvater der Versuchung tatsächlich erlegen war und ihr Großvater und alle anderen die ganze Zeit recht gehabt hatten. Aber das war jetzt nicht die beste Strategie.
Er ging nämlich schon zur Tür. Er war dabei, aus ihrem
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