Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
haben, zu knausern und zu hamstern. Aber sie hatte gedacht, in England sei diese Zeit inzwischen vorbei.
Sie saßen auf Polsterstühlen in einem Raum, der blassblau gestrichen war und eine cremefarbene Decke hatte. Abgesehen von den Stühlen und dem Tisch gab es ein Bücherregal, das Flavia an Signor Westerman erinnerte, eine Vitrine voller Porzellan, einen ziemlich großen Marmorkamin und Gemälde an den Wänden, die, wie Flavia vermutete, englische Landschaften darstellten. Denn alles sah sehr grün und feucht aus, und es gab Felder, Bäume und Hecken, genauso wie Peter erzählt hatte.
Sie sah zu, wie Signor Westermans Schwester den Brief zweimal durchlas. Anschließend lehnte sie sich, die Hände in den Schoß gelegt, zurück und sah Flavia ernst an.
»Heute Nacht bleiben Sie hier, meine Liebe«, erklärte sie. Das war eindeutig keine Frage.
»Danke«, sagte Flavia. Sie war sich nicht sicher, ob sie der Aufgabe gewachsen gewesen wäre, an diesem feuchten Novembernachmittag in London noch nach einer anderen Unterkunft zu suchen.
»Sie bleiben hier so lange, wie Sie möchten«, fügte Bea hinzu. »Ihre Familie ist auf Sizilien gut zu Edward gewesen. Jetzt ist es Zeit, dass wir hier in England Ihnen helfen.«
Flavia spürte, wie ihr angesichts dieser Freundlichkeit Tränen in die Augen stiegen, aber sie unterdrückte sie entschlossen. Jetzt war keine Zeit für Schwäche. Sie würde ihre ganze Kraft brauchen, um sich an diesem fremdartigen Ort einzuleben. Sie brauchte ihre ganze Kraft für das, was kommen würde.
»Mein Bruder schreibt mir, dass Sie sich nach einer Stellung umsehen wollen. Und er teilt mir mit, dass Sie eine wunderbare Köchin seien.«
Flavia versuchte, bescheiden dreinzuschauen, aber sie spürte, wie sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
»Daher schlage ich vor, dass Sie für mich arbeiten, bis Sie eine andere Stelle finden«, erklärte Bea energisch. »Sie können das Kochen übernehmen und ab und zu Mrs. Saunders beim Putzen unterstützen. Sie wird alt und kann sich nicht mehr so gut bücken wie früher. Und Sie müssten ab und zu ein paar kleine Besorgungen für mich erledigen. Dafür erhalten Sie Kost und Logis.«
Flavia versuchte, ihr zu folgen.
»Sie bekommen zu essen und eine Schlafgelegenheit«, erklärte Bea. »Und ein kleines Taschengeld.« Sie hielt inne. »Was halten Sie davon?«
Flavia glaubte zu verstehen, was sie ihr anbot. »Ja«, sagte sie. »Danke. Aber …« Aber da gab es etwas viel Wichtigeres, das sie sofort tun musste.
»Ah ja, Ihre Mission.« Bea nickte. »Edward erwähnt das in seinem Brief. Aber allzu viele Einzelheiten teilt er mir nicht mit.« Sie lächelte aufmunternd. »Erzählen Sie mir doch davon, meine Liebe.«
Und Flavia, die Peter so lange vor so vielen Menschen verheimlicht hatte, erzählte ihr die ganze Geschichte. Wie sie ihn in seinem Flugzeugwrack gefunden hatte. An dieser Stelle sah sie erstaunt, dass Bea Westerman Tränen in den Augen hatte. Wie sie ihn gepflegt hatte und er fast gestorben war. Wie sie sich verliebt hatten und dass sie ihm geschrieben hatte. So viele Briefe … So viel Liebe.
»Deshalb muss ich ihn finden«, erklärte sie zum Schluss. »Ich muss ihn finden und in Erfahrung bringen, was aus ihm geworden ist.«
Bea nickte ernst. Sie schien ihre Worte sorgfältig abzuwägen. »Sechs Jahre sind eine schrecklich lange Zeit«, sagte sie schließlich. »In sechs Jahren …«
»Ich weiß.« Flavia fehlten die Worte, um sich richtig auszudrücken. Ja, in sechs Jahren hätte Peter sterben können. Vielleicht hatte er es gar nicht bis zurück nach England geschafft. Aber in ihrem Herzen spürte sie, dass er lebte. Denn in ihrem Herzen brannte ein Licht, und sie wusste, dass es erst verlöschen würde, wenn er starb.
»Seine Lebensumstände«, meinte Bea, »könnten sich verändert haben.«
»Ja.« Das war Flavia ebenfalls klar. »Aber wir haben es uns geschworen. Es war ein Versprechen, und ich glaube nicht, dass er es brechen würde.«
»Vielleicht nicht«, sagte Bea. »Aber der Krieg …« Sie seufzte und stand auf. »Der Krieg verändert uns alle.«
Flavia fragte sich, ob der Krieg auch Bea verändert hatte. Hatte sie vielleicht einen Liebsten gehabt, der in den Krieg gezogen war? Zu alt dafür war sie nicht, obwohl sie älter als Edward und auch ernster war als er.
»Ich werde Ihnen bei Ihrer Suche helfen«, sagte Bea. »Wir reden morgen weiter. Gleich kommt Mrs. Saunders. Sie wird Sie auf Ihr Zimmer
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