Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
du so durch den Laden? Solltest du nicht im Lager sein?« Nachdem sie mich runtergeputzt hat, zeigt sie mir die kalte Schulter und wendet sich wieder dem Studium ihrer Poren zu.
Seufzend schaue ich nach draußen auf die Straße. Menschenmassen schieben sich an den Schaufenstern vorbei, aber sie alle gehen einfach weiter und lassen Hardy’s links liegen, als bemerkten sie uns gar nicht. Am liebsten würde ich in die spärlichdekorierten Schaufenster springen und ihnen zuwinken, Scherensprünge machen, schreien und kreischen und was es sonst noch bräuchte, damit sie mich bemerken.
Auf dem Weg die Treppe hinunter ins Untergeschoss stelle ich mir, wie ich es immer tue, vor, ich sei eine bildschöne Dame aus den späten vierziger Jahren, in einem Chanel-Kostüm mit knallroten Lippen und kurzen, in Wellen gelegten Haaren, auf dem Weg zu einem Rendezvous mit ihrem amerikanischen GI-Geliebten.
Schnellen Schrittes laufe ich durch die Herrenabteilung zum Teesalon, der versteckt am anderen Ende des Kaufhauses liegt. Er ist immer ein willkommener Rückzugsort, wenn ich mal ein bisschen Ruhe und Frieden vom Kommen und Gehen im Warenlager brauche. Von den anderen Angestellten kommt keiner hierher; die gehen lieber zu Starbucks gegenüber oder laufen in der Mittagspause zur Oxford Street.
Lily hat schon hier gearbeitet, als ich noch ein kleines Kind war, und lange davor. Sie ist ein zartes, zierliches Wesen und inzwischen sicher weit über siebzig, sieht aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Ihr genaues Alter will sie mir nicht verraten; sie sagt nur immer, sie sei alt genug, um es besser zu wissen, und jung genug, sich nicht darum zu scheren. Sie hat schwarz gefärbte Haare, die sie in einem strengen Knoten trägt, mit kleinen herausgezupften Löckchen, die ihr herzförmiges Gesicht einrahmen. Die Lippen sind rot geschminkt, und ihre Augen sind kobaltblau und funkeln und heben sich strahlend gegen die blasse Haut ab (»Sonnenbräune macht so alt, Darling«), und sie duftet immer nach Puder und Chanel No.5. Früher war sie Tänzerin von Beruf. Unter anderem hat sie als Windmill Girl an dem berühmten Revuetheater in der Great Windmill Street gearbeitet, das auch während des Krieges geöffnet blieb und bekannt war für seine Akt- tableaux vivants. Wobei ich bis heute nicht recht weiß, was ich mir darunter vorstellen soll. Lily meint nur, es sei »Kunst«gewesen. Sie trägt stets Schwarz und Weiß (»Damit kann man nichts falsch machen, Darling«) und geht nie ohne eine doppelreihige Perlenkette um den Hals aus dem Haus. Wenn ich sie so anschaue, ist sie der beste Beweis dafür, dass echter Stil niemals aus der Mode kommt. Sie erzählt die wunderbarsten Geschichten aus dem London der fünfziger Jahre. Sie ist einfach großartig, eine Dame durch und durch, und ich schätze sie sehr.
Lilys Teesalon betreten die Gäste über eine kleine Treppe gleich neben der Eingangstür des Untergeschosses, wo ein Schild mit der freundlichen Aufforderung hängt: »Bitte warten Sie, bis Sie an Ihren Tisch geführt werden.« Ich weiß, die Londoner können es nicht ausstehen, auf irgendwas zu warten, aber diesen kleinen Moment braucht man einfach, um die wunderbare Umgebung zu bestaunen. Der Teesalon wurde seit den dreißiger Jahren nicht mehr umgestaltet. Irgendwie hatte er das Glück, bei Sebastians grässlicher Renovierungsaktion in den späten Achtzigern übersehen zu werden. Der Boden besteht aus schwarz-weißen Schachbrettfliesen, und auf den kleinen runden Tischchen stehen einladend leuchtende altmodische bordeauxrote Tischlämpchen mit verblichenen Schirmen und Fransenborte. Ich muss dabei immer an den Film Begegnung denken, auch wenn weit und breit kein Eisenbahnwaggon zu sehen ist. Dieser Ort strahlt eine Wärme und Herzlichkeit aus, die ich einfach ganz entzückend finde, und wenn ich da bin, muss ich immer an die vielen Hundert Romanzen denken, die sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts vermutlich hier abgespielt haben. Die alten Wände sind in einem warmen Burgunderrot gestrichen, und an beiden Seiten des Raums schimmern Messingleuchter fröhlich hinter verblassten goldenen Lampenschirmen. Sämtliche Plätze sind mit altmodischen Teetassen eingedeckt, und gerahmte Originalfotografien aus den dreißiger und vierziger Jahren hängen an den Wänden, mit Autogrammen von Cary Grant,Clark Gable und Bette Davis, die alle irgendwann mal hier waren.
Grinsend nehme ich zur Kenntnis, dass Lily seit meinem letzten Besuch links und
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