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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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den Großmufti zu fühlen. Die Palästinenser blieben stets unter sich und gaben allen anderen das Gefühl, nichts weiter als Laufburschen zu sein. In der Heimat wäre das selbstverständlich gewesen, hier aber, unter diesen besonderen Bedingungen, waren wir doch alle etwas wie eine verschworene Gemeinschaft. Jedenfalls ließ mein Herr es so erscheinen, etwa, wenn er besondere Verschwiegenheit von uns forderte.
    Die Wirklichkeit jedoch sah anders aus. Ich fürchtete, nicht dazuzugehören, und warf mir das selbst immer dann am heftigsten vor, wenn mich die Verehrung für den Großmufti überkam. Es konnte geschehen, dass ich ihn unterhalb der zweiarmigen Treppe im Garten der Villa lustwandeln sah, vertieft in Gedanken und den Waldsee nicht einmal bemerkend, wenn er bis auf den kleinen Holzsteg hinausging – und dieser Anblick genügte, mich unruhig werden zu lassen vor Begierde, etwas für ihn zu tun. Jetzt aber konnte ich ihm meine Loyalität nicht mehr beweisen, denn ich hatte die Wertschätzung meines Herrn ganz sicher verloren. Das bekümmerte mich nicht nur, es verstärkte auch meine Einsamkeit.
    Dennoch blieb mein Wagemut lebendig, etwas in mir begehrte auf gegen das strenge Regiment aus Mahlzeiten und Gebeten, den durchgeplanten Tagesablauf, der die Zeit wie im Flug vergehen ließ. Das änderte sich auch nicht, wenn mein Herr verreiste, was in diesem Jahr öfter geschah, und allen Zurückgebliebenen nur das Warten blieb. Eben noch hatte ich den sommerlichen Geruch der Kiefern von Zehlendorf eingesogen und bewundernd hinaufgeblickt an ihren schlanken, von der Abendsonne rötlich angestrahlten Stämmen, da war es schon wieder Frühherbst und feuchte, kühle Luft drang durch die Terrassenfenster der Villa. Oft erinnerte ich mich an die Frau im Hotel, und wenn ich meine Kopflosigkeit von damals auch bereute, so war ich doch nicht sicher, ob ich bei sich bietender Gelegenheit nicht genau das Gleiche wieder getan hätte.
    In dieser Zeit wirkte der Großmufti häufig ernst und besorgt. Soweit ich es verstand, war der Grund dafür nicht die politische Lage, sondern Oberst Rashid Ali. Dieser ging seit langem schon seine eigenen Wege und hatte es inzwischen erreicht, dass die Deutschen ihn als den künftigen Herrscher eines von den Engländern befreiten Irak anerkannten. Auch für den Großmufti stand der Untergang des Britischen Empire unmittelbar bevor, daher bemühte er sich, den Deutschen klarzumachen, mit wem sie in der von ihnen geschaffenen neuen Welt zu verhandeln hatten.
    »Rashid Ali«, hörte ich ihn sagen, »ist wie alle dummen Araber, die zu Macht gekommen sind, ein Kleingeist, ein Lokalfürst, nur auf den eigenen Vorteil bedacht, bis ihn der Nächste vom Thron fegt. Es geht doch aber um viel mehr, es geht um die arabische Sache. Nur die Deutschen können uns die Unabhängigkeit geben und nur sie können die Juden ins Meer treiben, die immer weiter daran arbeiten werden, die arabische Nation zu untergraben. Rashid Ali will seine Macht zurückhaben, er hat nicht das Format, die bevorstehenden Ereignisse auch nur zu begreifen.«
    Zwar gab es inzwischen immer öfter Meldungen von Bombardierungen deutscher Städte, aber hier, unter den duftenden, wispernden Kiefern, in den verdunkelten und manchmal sternenklaren Herbstnächten war der Frieden so umschließend, dass ich nicht daran glauben mochte. Ich war wie alle sicher, dies würde in den nächsten Wochen bereits zu einem Ende kommen, denn die Entscheidung in diesem Krieg war nahe.
    Nur manchmal, wenn ich in den Nächten wachlag und zur dunklen Zimmerdecke blickte, wurde ich unsicher. Ich hatte keine Vorahnungen oder Zweifel, nur der Gedanke quälte mich, dass in diesem Land nichts so war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Musste das Zentrum einer neuen Welt nicht lebendiger, lichterfüllter sein? War die ungeheure Stille hier nicht seltsam? Vielleicht, sagte ich mir, ist das die Stille vor dem Sieg, der schließlich alles verändern und die Menschen auf den Straßen tanzen lassen würde. Oft ging mir jener Satz der Frau durch den Kopf: Du weißt nicht, wo du bist. Ich dachte an die leeren Straßen in der Umgebung der Villa, an die schmale Brücke über den Waldsee, die oft ebenso verlassen wirkte wie die großen Häuser.
    Bisweilen saß ich dort, ertrank förmlich im Vogelgezwitscher, blickte den Pfad entlang, der zur nächsten größeren Straße führte, und wünschte mir, jemand möge vorbeikommen. Vielleicht war ich diese Leere einfach nicht gewöhnt,

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