Ein weites Feld
Bedacht griff er nach seinen Utensilien und stieg dann ab. Unten empfing Hoftaller einen zitternden Greis. So heftig auf des Staates unsterbliche Fürsorge angesprochen, umarmte er den Wankenden. Eine kurze Ewigkeit hielt er ihn in Umarmung. Und weil die Sonne noch immer auf ihrer Seite war, warfen sie einen kompakten Schatten. Dann half Hoftaller dem erschöpften Redner zu einer Bank, die nicht steingehauen, sondern als normale Parkbank vor kahlem Gebüsch stand. Sitzend verging Fonty nach einer Weile das Zittern.
War damit alles gesagt? Blieben nachträglich Reste? Wir vom Archiv wollen der eigenwilligen Auslegung des unter Pseudonym veröffentlichten Artikels über »Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller« nicht prinzipiell widersprechen, doch müssen wir, da uns Fußnoten versagt sind, die allzu gerafft wiedergegebene Rede nun doch im Detail ergänzen. Vom Denkmal herab hat der Redner seinen Vorschlag, dem »Aschenbrödeltum« der Literatur durch »Verstaatlichung« abzuhelfen, sogleich eine Warnung nachgeliefert: »Vielleicht ist das Mittel schlimmer als der gegenwärtige Zustand.« Und hätte ihn nicht ein Schwächezustand vom Denkmalpodest geholt, wäre Fonty gewiß zum Abschluß der letzte Satz des Artikels vom 26. Dezember 1891 eingefallen. Nach dessen Wortlaut wird geraten, zum Wohle der Schriftsteller von jeglicher Staatsfürsorge abzusehen. Und danach steht geschrieben: »Das bessere Mittel heißt: größere Achtung vor uns selber.« Ein wohlmeinender Rat; doch kann es sein, daß Fonty in jenen Tagen der Wendezeit wenig Anlaß für Selbstachtung sah. In West wie Ost stellten Schriftsteller andere Schriftsteller an den Pranger. Um nicht beschuldigt zu werden, beschuldigten sie. Wer gestern noch hochgefeiert war, sah sich heute in den Staub geworfen. Gesagtes ließ sich mit Nichtgesagtem verrechnen. Eine Heilige wurde zur Staatshure erklärt, und jenem einst vor Schmerz schluchzenden Sänger glückte nur noch des Selbstgerechten Geschrei. Kleingeister spielten sich richterlich auf Ein jeglicher stand unter Verdacht. Und da Himmelsrichtungen weiterhin die politische Richtung vorgaben, sollte östliche Literatur nur noch nach westlichem Schrottwert gehandelt werden. Nein, das war keine Zeit für »größere Achtung vor uns selber«. Fonty muß das gespürt haben, als er zitternd an Hoftaller hing, angewiesen auf dessen Umarmung.
Nachdem er die Schwäche auf der Parkbank überwunden hatte, entfernten sie sich in gewohnter Eintracht. Dieses Bild kannten wir schon: ein Gespann besonderer Art, das im Weggehen kleiner und kleiner wurde, bis es verschwunden war. Dann wollte es der Zufall oder die Laune höherer Regie, daß noch einmal jenes touristische Paar, er mit Pfeife, sie mit Photoapparat, vor dem Denkmal aufkreuzte, als sei noch nicht alles geknipst. »Irgendwas fehlt!« rief er. Doch sie sagte: »Seh ich nicht. Du bildest dir wieder was ein.«
Danach hat sie doch noch abphotographiert, was da war, wobei ihr abermals das Lockenhaar vor die Optik fiel und er ziemlich mürrisch das Denkmal von allen Seiten nach dem absuchte, was fehlte. Dann gingen sie. Bevor nun auch wir uns davonmachten, blieb Zeit, einen Blick auf das gegenüberliegende Fabrikgelände mit Schornstein zu werfen. Tot und leer verriet das Backsteingemäuer nicht, daß dort bald nach dem Ersten Weltkrieg Theo Wuttkes Vater als Lithograph Arbeit gefunden hatte. Wie die berühmte Firma Gustav Kühn druckte Oehmigke & Riemschneider über hundert Jahre lang die beliebten Neuruppiner Bilderbögen direkt vom Stein; heutzutage sind diese Drucke Sammlerobjekte. Doch nicht deshalb sagte Fonty, als beide wieder im Trabi saßen und in Richtung Berlin rollten, mehr zu sich selbst als zu Hoftaller: »Solche Produktion müßte man wiederbeleben. Könnte mit Hilfe der Treuhand geschehen. An Stoff mangelt es wahrlich nicht. Ob Glühlampenwerke oder Textilverarbeitung, überall wird dichtgemacht. Überall gehen Existenzen den Bach runter. Typische Bilderbogengeschichten …« Und dann soll er noch gesagt haben: »Aber sonst war in Neuruppin nicht viel los.«
30 Ein Mord mehr
Der bronzezeitliche Kultwagen, die eiserne Götz-Hand und weitere Fundstücke, als hätte der Lehrer Krippenstapel sie ausgebuddelt und Dubslav Stechlin in sein Spinnwebmuseum gestellt. Dazu der Abessinier, gemalt von Gentz, die Büste Voltaires, ein Pokal der Tuchmacherinnung und buntkolorierte Bilderbögen aus der Werkstatt Kühn. Und dann erst die blitzblank staubfreien
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