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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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oder Bitterfeld zu verschlanken, abzuspecken, gesundzuschrumpfen, plattzumachen oder zu verscherbeln. Als sich schwatzend eine Gruppe von Schülern mit Lehrer näherte, die von Fonty als DeutschLeistungskurs von drüben eingeschätzt wurde, verdrückte er sich zwischen benachbarten Gräbern, um nicht erkannt zu werden, bekam aber mit, wie der Lehrer den Ribbeckschen Birnbaum zu beschwören begann, indem er historisch ausholte, bei Henricus de Ribeke ansetzte, danach den letzten Gutsbesitzer ein »Opfer des Faschismus« nannte, sodann die Bodenreform und Umwandlung von rund tausend Hektar Junkerland in eine LPG namens »Junges Leben« lobte und schließlich doch noch auf die Birnen kam: »Lütt Dirn, kumm man röwer, ick gew’di’ne Birn …« Aber selbst die munteren Ausrufe der Schülerinnen und Schüler, die dieses unverwüstliche Gedicht als »irre witzig« und »echt niedlich« wie einen Hit feierten, konnten Fontys Stimmung nicht heben. Er ging, ohne sich umzublicken.
    Wohin er auch flüchtete, verzweifelte Unrast und lähmende Verzweiflung, sein allgemein begründetes Leid und die Sorge um das fehlende Wort hingen ihm an. Sogar im aufblühenden Tiergarten litt er am Vogelsang und Knospensprung. Auf seinen Lieblingsbänken, sei es nahe der Luisenbrücke, sei es der Rousseau-Insel gegenüber, saß Frau Sorge und strickte ihm einen endlosen, von keinem Muster belebten Shawl. Man hätte seine Seufzer hier oder dort hören können, und selbst wenn er sich zur Ablenkung Gesellschaft herbeizitierte, gelang kein Plauderton. Kaum kam er, was immerhin leichtfiel, mit dem Amtsrichter Friedlaender ins Gespräch, sah er sich schon gezwungen, »mit der Bissigkeit meiner alten Tage über diesen beschränkten rappschigen Adel, diese verlogene oder bornierte Kirchlichkeit, diesen ewigen Reserveoffizier« zu klagen, um dann, als säße gleichfalls sein Brieffreund aus Jena neben ihm, in den Gesellschaftsstützen von dazumal die gegenwärtigen Raffkes, Phrasendrescher und Prinzipienreiter zu erkennen: »Selbst wenn sie nichts wissen, wissen sie alles besser. Dennoch sollten Sie sich, mein lieber Freundlich, von diesen Wessis nicht aus dem Leben graulen lassen. Stehe zwar selbst nicht mehr voll unter Dampf, bin aber nicht unterzukriegen. Nur Mut! Habe übrigens im ›Tagesspiegel‹ gelesen, daß Ihr Sorgenkind dem alten Carl Zeiss Ehre gemacht und ein Auswärtsspiel gewonnen hat. Na also!« Sobald Fonty glaubte, seinen englischen Brieffreund James Morris neben sich zu haben – doch saß am anderen Ende der Tiergartenbank nur ein schnauzbärtiger Türke seines Alters –, beteuerte er diesem und jenem, daß er »nirgends einen Weltfortschritt« wahrnehmen könne. Er höhnte so laut und umfassend global, daß sein anatolischer Banknachbar vom Spiel mit der Gebetskette abließ: »Die Kanonen und Gewehre werden immer besser und scheinen die Fortdauer europäischer Zivilisation im Pizarrostil vorläufig noch verbürgen zu können …« Und mit dem nächsten Satz schon war er mit dem »Golfkrieg und dessen verbessertem Vernichtungsangebot« zur Stelle: »Diese allerchristlichste Totschlägerei lief gleichzeitig und kostensparend als Fernsehprogramm. Sogar meiner Emilie war das zuviel.« Der Türke schien zuzustimmen. Hingegen verteidigte Morris weiterhin Englands damalige Beiträge zum Weltfrieden, sei es in Indien, sei es im Sudan oder auf der Insel Sansibar; die Golfregion wollte er gleichfalls so und nicht anders befriedet sehen. Fonty war nun bei Ansprachen, die jüngst »Kaiser Wilhelm und nun gar erst dessen Bruder Heinrich in Kiel« gehalten hatten: »Himmelangst wird mir dabei, Hurrageschrei und Flottenparaden; nicht zu reden von den ›blühenden Landschaften‹, die uns pünktlich zum Wahltermin die regierende Masse versprochen hat …« Aber mit Bernhard von Lepel, den er herbeirief, kaum hatten sich seine gegenwärtigen und vergangenen Banknachbarn verflüchtigt, war nicht über Waffenhandel und Wahlversprechungen oder gar zukünftige Bedrohungen des Menschengeschlechts zu sprechen, so verknöchert und engstirnig fand er seinen Jugendfreund vor; und seine alte Brieffreundin Mathilde von Rohr wußte nur vom neuesten Tratsch märkischer Adelsfamilien zu berichten. Als sich Fonty seinen antipreußischen Widersacher Theodor Storm mit forschem Ton auf die Bank holte – »Nun kommen Sie schon!« –, fanden sich beide im Literarischen schnell einig, sobald es aber um Berlin als Deutschlands zukünftige Hauptstadt ging, war

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