Ein weites Feld
das Violinkonzert von Brahms an, das Madeleine in Marthas hinterlassener Plattensammlung gefunden hatte. Er, der uns allenfalls mit sarkastischer Bemerkung – »Baron Senfft sang eine Loewesche Ballade, natürlich den unvermeidlichen A. D.!« – seinen Abscheu vor Vertonungen unsterblicher Lieder und generell vor Kammersängern oder gar Wagnertenören demonstriert hatte, saß nun in der Küche am Wachstuchtisch und erduldete die Thomanerknaben sowie die himmelhoch jauchzende Stimme einer gewissen Adele Stolte, für die seine Enkeltochter, der nicht wenige Bachkantaten geläufig waren, besonders schwärmte: »Jauchzet Gott in allen Landen …« Wir staunten, und er mag über sich selbst erstaunt gewesen sein. Harmonie dieser Art war neu für Fonty. Chorstärke kam bei ihm nicht vor. Eine Einzelstimme mit kleiner Begleitung oder ein lutherisch schlichter Choral, das mochte angehen. Für sich pfiff oder brummte er manchmal gutgelaunt preußische Märsche oder Altberliner Gassenhauer; jetzt aber kam es ihn gewaltig an, ob andante oder fortissimo. Er hörte mit schräg geneigtem Kopf und atmete tief ein und aus, als müßte er Fugen oder den Cantus firmus inhalieren. Uns gegenüber behauptete Madeleine, die Musik habe zu seiner Genesung beigetragen: »Mals non, messieurs dames, nicht ich, Brahms hat ihn gesund gemacht.« Und er erinnerte sich: »Bei Stehely oder Josty, muß im März neunundachtzig gewesen sein, als wir nach der Aufführung von ›Frau vom Meere‹ beim Souper saßen. Ibsen war dabei. Plauderte kurz mit ihm von Apotheker zu Apotheker. Aber auch Schlenther, von Bülow und Schmidt am Tisch. Außerdem ein Zigarrenraucher, der nichts sagte. Hätte diesem Johannes Brahms solch kolossal wohlklingende Melancholie nicht zugetraut. Könnte ihn wieder und wieder hören …« Jedenfalls ging es in der Dreieinhalbzimmerwohnung vielstimmig und abwechslungsreich zu. Ob Dresdner Kreuzchor oder ein sächsischer Trompeter, das Gewandhausorchester oder die Thomaner, was der Arbeiter- und Bauern-Staat an Musik zu bieten gehabt hatte, fand sich in Marthas Plattensammlung, dazu reichlich Chopin aus polnischer Produktion. Und Fonty gab uns, als wir ihn auf seine Gesundung mittels Musik ansprachen, nach einigem Rückbesinnen zu bedenken: »Vielleicht hätte man im ›Stechlin‹ diesen unaussprechlichen Doktor Wrschowitz, der bei den Barbys häufig zu Gast war und partout nichts Skandinavisches hören wollte, weniger karikiert ausstatten sollen, mit mehr Geist als Witz. Kein Wort fällt bei ihm über die drei großen B, aber viel treffend Ridlküles über Berlin: ›Eine sehrr gutte Stadt. Weil es hat Musikk und weil es hat Kritikk!‹ Sie erinnern sich gewiß an die Szene, in der es um die ›Berliner Madame‹ geht und schließlich um das Telegramm, das der junge Stechlin aus London an seinen Regimentskameraden Czako geschickt hatte und dessen nichtssagende Kürze …« Also gut: Fonty genas an Musik; doch als La petite auf dem Piano im Poggenpuhlschen Salon ein Impromptu vom Blatt zu spielen begann, protestierte ihr Großvater: »Bin nur auf stumme Möbel abonniert!«
Wenn Woldemars Telegramm der preußischen Wortknapserei und der Wolffschen Telegraphensprache folgte – »Fünfzehn Buchstaben auf ein Taxwort« –, läßt sich gleiches von jenen Telegrammen sagen, die in rascher Folge aus Schwerin kamen und auf die Madeleine zu antworten hatte: Fonty war seit seiner Gesundung zu allem möglichen aufgelegt, nur nicht zum Briefeschreiben. Von der Beerdigung stand nichts in den telegraphischen Kürzeln, wohl aber schlug sich die Testamentseröffnung in zählenden Einheiten nieder. Die Absenderin Martha Grundmann, geborene Wuttke, konnte sich als nunmehr reiche Witwe Unkosten leisten. Es hieß: Unterm Strich sei die Erbmasse groß genug, um den Kompagnon Löffelholz abfinden zu können. Den erbberechtigten Kindern stehe selbstverständlich ein Pflichtteil zu. Weitere Ansprüche seien ausgeschlossen. Fortan werde sie, Martha, als Haupterbin die Geschäfte führen. Rechnen könne sie ja. Alles laufe bestens. Mama gehe es gut.
Dazu sagte Theo Wuttke als Fonty: »Wer hat ahnen können, daß in Mete, diesem Pechmatz, ein Finanzgenie steckt?«
In den nächsten Telegrammen stimmten sich knappgefaßte Entschlüsse – »Mama bleibt. Gegend gefällt. Seeblickvilla geräumig« – auf erste Lockrufe ein: »Vater erwünscht. Sofort kommen. Wohl fühlen sicher. Turmzimmer fix und fertig. Brief folgt.« Aber es kam kein Brief. Martha
Weitere Kostenlose Bücher