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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Bärlapp und Katzenpoot gekommen ist, denn den alten Stechlin haben weder heiße Aufgüsse samt Hexenspruch ›Dat Woater nimmt dat Woater‹ noch Krippenstapels Honigwabe vom Sterben abhalten können, obgleich meinem Dubslav, der weit jünger als ich war, ein paar Jährchen in gutgelaunter Gesellschaft zu gönnen gewesen wären. Mir jedenfalls muß meine Enkeltochter ein Elixier gebraut haben, von dem nur zu sagen ist, daß es mir zartbitter runterging, wirksam bis unter die Fußnägel. Wenn ich gestern noch hätte sagen mögen: ›Mit mir ist nichts mehr los, Buschen‹, so könnt ich heut zwar nicht Bäume ausreißen, aber doch durch den Tiergarten rauf und runter joggen. Bin aber gegen Jogging. Ist ungesund!«
    Nein, große Sprünge waren ihm nicht erlaubt. Einmal täglich gegen Abend, wenn die Hitze nachließ, durfte er an Madeleines Arm treppab, mit ihr im Bummelschritt den Kollwitzplatz umrunden und im Bistro in der Husemannstraße zu Salzmandeln, die er gerne knabberte, ein Glas Medoc trinken. Die Nachbarin Scherwinski bestaunte das Wunder und sah in der angereisten Französin eine Heilige wirken; jedenfalls hat sie zu uns gesagt: »Konnt man zusehn, so schnell hat die Kleene den Alten jesund jemacht. Ehrlich: Kaum war Frau Wuttke mit unsre Martha wejen Trauerfall weg auf Beerdjung, da hat se den Kumpel vom Alten, sagen wir mal, fristlos jekündigt. Und denn hat die Kleene nen richtigen Wirbel jemacht: erst mal jelüftet, denn überall Blumen hinjestellt und dabei von morgens an auf französisch jeträllert, na, solche Schanzongs vonne Piaf, kenn ick von früher noch, hätt ick glatt mitsingen jekonnt. Hat jedenfalls Wunder jewirkt. Und nu wohnt se hier und bekocht den Alten, auf französisch, versteht sich …« Mit nur wenig Gepäck war Madeleine Aubron in die Kollwitzstraße eingezogen. Auf Hoftallers Feldbett, das zusammengeklappt in der Küche stand, wollte sie nicht liegen, doch gefiel ihr Marthas Jungmädchenkammer, in der noch immer Photos aus FDJZeiten, gekreuzte Papierfähnchen, ein Schwarzweißbild der Seghers und farbige Ansichten der Schwarzmeerküste an den Wänden hingen. Die Photos erzählten von Gruppensingen und vom Pädagogischen Kollektiv, dem Ersten Mal und von Weltjugendfestspielen. Die Seghers blickte streng und somnambul zugleich. Das Schwarze Meer war von grünstichigem Blau. Und samt Emblem weinten schwarzrotgoldene Fähnchen dem Arbeiter- und Bauern-Staat nach. In einem Bücherbord, auf dessen oberstem Brett etliche sozialistische Devotionalien
    - darunter ein kleiner Gips-Lenin – als zusätzlicher Zimmerschmuck Staub fingen, standen die Klassiker der materialistischen Lehre, zudem russische neben deutschen Autoren. Madeleine blätterte in »Die Abenteuer des Werner Holt«, und schlug einen zerlesenen Band auf: »Nachdenken über Christa T.« Bevor sie sich festlas, entdeckte sie in einem Sperrholzregal, auf dem ein Plattenspieler stand, gestapelte und in Fächer gestellte Schallplatten: bulgarische Folklore, der Sänger Ernst Busch mit Songs aus der »Dreigroschenoper«, aber auch mit wehmütig kämpferischem Gesang: »Spaniens Himmel …« Schließlich fand sie einen Stoß klassische Musik: Bachkantaten, barocke Trompetenkonzerte und viel für Klavier -mit Orchester oder Solo – von Brahms, Schumann, Chopin, darunter Stücke, an denen sich Martha versucht haben mag, als noch vom Piano im Poggenpuhlschen Salon Gebrauch gemacht wurde.
    Ähnlich klassenbewußt, wenngleich mehr auf Trotzki abgestimmt, könnte Madeleines Jungmädchenzimmer in Montpellier dekoriert und von Kulturgütern bestimmt gewesen sein. Sie wird sich ein wenig heimisch gefühlt haben. Irritierend war nur, daß neben einem gerahmten Rosa-Luxemburg-Photo die Abbildung des reiselustigsten aller Polen im Stellrahmen stand; jedenfalls hat Madeleine den Papst sofort, als hätte er sie in Schrecken versetzt, aufs Gesicht gekippt. Und erst als sie den Stellvertreter Gottes hinter einem gebündelten Stoß pädagogischer Schriften verkramt hatte, ließ sie Schallplatten ablaufen: zuerst »Und der Haifisch, der hat Zähne …«, dann eine Bachkantate. Großvater und Enkeltochter lebten sich aufeinander ein, das heißt, Fonty mußte Musik ertragen. Er, der zugab, von Symphonien nichts zu verstehen – »Ich gehöre zu den Musikbotokuden!« –, und dessen Nerven weder Orgel noch Geige aushielten, lernte, Musik als erträglich zu erleiden, und hörte sich sogar – bei freilich auf Wunsch leise gestelltem Plattenspieler –

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