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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Geballte Erwartung. Und dann stand Fonty, der auf einem vorgezogenen Stuhl seinen Ehrenplatz gehabt hatte, langsam auf, straffte sich und ging, ein ehrwürdiger Greis -und ganz seinem gestrigen Aussehen vertrauend –, mit dem Manuskript in der Rechten auf das Stehpult zu. Dort stand er ins Licht gerückt, verbeugte sich knapp, woraufhin abermals Beifall das Kesselhaus weitete. Nun wurde das Deckenlicht zurückgenommen, nur um das Pult blieb es hell.
Mit dem ersten Wort »Übrigens« und der folgenden Floskel »Bin eigentlich kein Redner« hatte er einige Lacher auf seiner Seite, doch als Fonty sich grundsätzlich erklärte: »Reden müssen hat für mich immer etwas hervorragend Schreckliches gehabt, deshalb meine Aversion gegen den Parlamentarismus«, ebbte die Heiterkeit ab. Dann schlug er eine Volte »Bin aber von Geburt her ein Causeur, was heißen soll, ein Plauderer« und befand sich sogleich im Manuskript, beim Beginn der »Kinderjahre«. Das Mikrophon half seiner nicht besonders weit tragenden Stimme. Ablesend trug er vor. Nun, mit Lesebrille, mutete er ein wenig fremd an, entrückt. Er warf einen Blick auf Neuruppin aus zweifacher Sicht, verglich das bürgerliche Elternhaus, die stets von Pleite und Spielschulden bedrohte Löwenapotheke, mit den Erfahrungen aus proletarischer Enge, in der es nach Kohlsuppe oder streng nach Fisch roch, war hiermit beim Steindrucker und Sozi Max Wuttke, also bei den Neuruppiner Bilderbögen und ihrem jeweils aktuellen Bildungswert, der noch in Swinemünde, wo abermals eine Apotheke mehr schlecht als recht ging, allem Privatunterricht übergeordnet war, selbst beim geliebten Hauslehrer Lau. Gleiches galt für die Neuruppiner Volksschule, aus der einzig der Mutter Ehrgeiz und Spareifer den Knaben Wuttke ins Gymnasium zu versetzen vermochte. Fonty benutzte geschickt die lithographierte Massenware aus den Werkstätten Gustav Kühn und Oehmigke & Riemschneider als zeitgeschichtliches Muster. Sobald es um die Wuttkes ging, blendete er Fox tönende Wochenschau ein, kam vom Potsdamer Ereignis – Reichspräsident Hindenburg schüttelt einem ehemaligen Gefreiten, der nun Frack und Zylinder trägt, die Hand – auf die Cholera, wie sie gerade noch vor Swinemünde und den am Apothekertisch versammelten Honoratioren Halt machte, um wiederum im Zeitsprung auf die braune Pest zu kommen. Dabei hatte er jeweils die dreißiger Jahre des einen, des anderen Jahrhunderts im Blick. Er vermischte Apothekengerüche mit denen der Kühnschen Druckerei. Die Mütter ließ er in Strenge wetteifern. Er setzte Farbtupfer: hier das himmelblau angestrichene Haus an der Ostsee, dort die Kolorierpinsel märkischer Kinder bei Stücklohnarbeit. Mal war der Ruppiner See, dann wieder das Baltische Meer von Segel- und Dampfschiffen belebt. Er hielt sich knapp, was große Ereignisse betraf, ging aber im Kleinleutemilieu ins Detail. Fonty war hier und dort zu Hause; und seine Verdoppelung ging so glatt auf, daß ihr das Publikum mühelos folgen konnte. Und nun baute er den beiden Vätern ein Denkmal, von dem herab sich der Zeitenwechsel wie eine Revue wechselnder Moden betrachten und, sobald er beide Väter ins Gespräch brachte, verplaudern ließ: Da ging es um Napoleon und dessen Marschälle und zugleich um die Vision weltweiter Genossenschaft; Erfahrungen beim Schweinemästen und Karnickelzüchten wurden getauscht; eher nebenbei und leichthin gestand der Spieler dem Trinker seine von Ort zu Ort verschleppten Schulden und deutete der Trinker dem Spieler die Größe seiner geschwollenen Leber an. Sie lachten über Spießer jeder Schattierung und schimpften auf Reaktionäre und Verräter, auf Adel und Beamte, auf Bourbonen und Hohenzollern, auf schwarzes. rotes, blaublütiges und braunes Gesocks. Aber auch Anekdoten tauschten die beiden Väter aus. Sie überboten einander. Und es mag sein, daß der Tonfall pointensicherer Gasconnaden, den beide aufschneiderisch beherrschten, Fonty verführt hat, plötzlich vom Manuskript zu lassen und freiweg zu reden. Er schob den Papierstoß zur Seite, nahm die Lesebrille ab, steckte sie weg. Straff, weil nicht mehr über linearen Text gebeugt, trat er seitlich hinterm Pult hervor und mißachtete, nun seiner Stimme sicher, das Mikrophon. Er blickte ins Publikum, als suchte er über Stuhlreihen hinweg das Gespräch, und fand im Halbdunkel ansprechbare Einzelpersonen. Er war mit beiden Händen redselig, zitierte aus »Von Zwanzig bis Dreißig«, holte die achtundvierziger Revolution

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