Ein weites Feld
gehört hatte, so der alles überragende Schornstein, den weitläufigen Hof, in dem sich das Publikum für diese und jene Kulturveranstaltung versammelte. Auf Nebenhöfen las man den Inschriften alter Gemäuer ab, daß es hier einen Heuboden für die Brauereipferde, dort, sozial fürsorglich, eine Invalidenwerkstatt gegeben hatte. Nun machten Galerien und Theater ihr Angebot. Doch alle, die an diesem Abend gekommen waren, wollten ins Kesselhaus, wo das Stehpult wartete. Man trank noch draußen ein Bierchen. Dann aber nichts wie rein! Jeder wollte günstig sitzen. Vor wenigen Monaten erst, Mitte Mal, war die Kulturbrauerei als Betreibergesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet worden; aber schon während der letzten Existenzjahre der allgegenwärtigen Arbeiter- und BauernMacht wurden die in den Kriegsjahren wenig beschädigten und im Verlauf des Endkampfs um die Stadtmitte kaum betroffenen Gebäude von Künstlern genutzt und in weiteren leerstehenden Räumen zum Möbellager bestimmt. Seit dem Mauerfall lief volles Programm: LiveMusik-Tage, Kabarett, Dichterlesungen, Ausstellungen und Straßentheater, sogenannte Workshops und Podiumsgespräche, was gerade – und besonders in Wendezeiten – aktuell war, gelegentlich schräg Alternatives. Aber auch Feste wurden gefeiert: ein türkisches Kinderfest, das jüdische Neujahrsfest und ein Fest zum Ende des islamischen Ramadan. Somit war Fontys Vortrag, der übrigens wenige Tage nach dem Moskauer Putsch sein Datum hatte, nur einer von vielen Terminen im laufenden Programm. Und dennoch fand etwas Besonderes statt, weil der Vortragende, Theo Wuttke, für die Älteren im Publikum die graue Zeit als Fonty überlebt hatte; und selbst die Jüngeren wußten, und sei es vom Hörensagen: Mit dem war doch mal was, ist lange her, irgendwann früher, als hier noch alles auf Zack lief. Soll was gesagt haben, was er nicht durfte, doppelsinnige Anspielungen, die den Bonzen nicht paßten. Bekam deshalb Ärger. Jedenfalls muß man, wenn dieser Fonty redet, dabeisein. Deshalb kamen sie alle. Sogar einige jener jungen Talente vom Prenzlauer Berg, die mittlerweile als Kneipenwirte oder fleißige Selbstbezichtiger ihr Auskommen oder ihr Thema gefunden hatten, saßen verstreut, weil miteinander verfeindet, im Publikum. Viele Ehemalige aus dem Haus der Ministerien hatten Eintritt bezahlt. Altersgraue Kulturbundfunktionäre bewiesen Anhänglichkeit. Man sah Akademiemitglieder, namhafte und weniger bekannte. Pastoren umliegender Kirchen, der von der CorpusChristi-Gemeinde und ein Priester von Sankt Hedwig, waren gekommen. Sogar Presse saß auf reservierten Stühlen. Nur aus dem Westen der Stadt hatte sich niemand hergewagt. Und offensichtlich zeigte die Treuhandanstalt keine Präsenz, wenngleich ihr auch diese Immobilie samt Kesselhaus unterstand. Ausverkauft war die Veranstaltung trotzdem. Fonty zog. Dringlich hatte man uns gebeten, der vielen thematischen Bezüge wegen, einleitend zu sprechen und den Vortragenden als Beweis lebendiger, überlebender, unsterblicher Literatur zu preisen, doch hatte der Archivleiter uns Zurückhaltung empfohlen; die Anwesenheit einiger Mitarbeiter müsse genügen. Deshalb sprach eine Dame, die zur Geschäftsleitung der Kulturbrauerei gehörte. Sie wollte es kurz machen, und sie machte es kurz: »Fonty muß man nicht vorstellen. Fonty, das wissen wir, spricht für sich. Sowas wie Fonty möchte doch jeder ein bißchen sein, Hand aufs Herz! Für alle, die noch von früher und noch früher her Bescheid wissen, aber auch für die Jungen, die heute ins Kesselhaus gekommen sind, weil sie irgendwas läuten gehört haben, ist unser Fonty ein Begriff. Herzlich willkommen, Herr Wuttke!« Welch ein Beifall. Als wollte man den Backsteintempel, die Quelle längst versiegter Bierströme, das Kesselhaus sprengen. Wir saßen in der ersten Reihe und konnten nur ahnen, wer hinter und über uns die Hand rührte. Später hieß es, das Ehepaar Wolf, der alte Hermlin, sogar Müller seien dabeigewesen; doch was später gesagt wurde, zählt nicht, später gab es nur noch Meinungen und Gerüchte.
Madeleine saß neben uns, still, die Knie beieinander, die Nasenspitze gesenkt und alle Finger im Schoß um ein Taschentuch versammelt. Hoftaller hatte sich abseits unter das Schild »Notausgang« gesetzt. Den hohen Raum erhellten zuoberst an Eisenträgern montierte Lampen. Kahl und fleckig der Verputz ragender Wände. Wie in einer Arena saß das Publikum in drei aufsteigenden Blöcken.
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