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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Schrift stand »Das Weite suchen« geschrieben, sonst nichts. Meine Kollegin hatte keine Bedenken, diesen Hinweis für das Archiv zu sichern. Mir hätte die Briefwaage als Andenken gefallen. Schließlich ließ ich einen Federhalter samt Stahlfeder verschwinden.
    Als wir gehen wollten, kam Pfarrer Matull von Sankt Hedwig, um, wie er sagte, »der Familie, wenn auch mit schwachen Kräften nur, beizustehen«. Mich kannte er von der Hochzeit her. Um irgendwas zu sagen, denn nach erstem Satz schwieg er dröhnend, kam ich ihm mit einer katholischen Wendung entgegen, die insgeheim aber meinen kleinen Diebstahl beschönigen sollte und sich auf »läßliche Sünden«, eine in Beichtstühlen gängige Nachlaßpraxis berief, von der mit Vergnügen der Unsterbliche in einem Regelbuch für Jesuiten gelesen hatte; weshalb auch Fonty unter diesem Begriff gerne verjährte und wiederholte Fehltritte abgebucht hat. Matull ging auf meine katholische Rechnung nicht ein. Er war nur für die Familie da. Dieser Fürsorge entsprechend, gab er uns zum Abschied den Tip, bei der Suche nach dem Verschollenen im Französischen Dom nachzufragen. »Genau!« rief Martha uns nach, und Emmi war sicher: »Da wird sich mein Wuttke mit unsrer Marlen versteckt haben, die kommt ja von da …«
    Wir ließen unsere Zweifel bestätigen: Weder bei den Reformierten noch in der Neuen Synagoge, in keiner der Kirchen, die wir abklapperten, in keinem Tempel, den wir aufsuchten, hatten Großvater und Enkeltochter Asyl erbeten, geschweige denn Unterschlupf gefunden, selbst bei der Heilsarmee haben wir, nun schon verzweifelt, nachgefragt. Tage vergingen. Emmi und Martha waren abgereist. Zuvor war es ihnen gelungen, »noch schnell den Umzug zu deichseln, die paar Klamotten«, wie uns die Witwe Grundmann am Telephon sagte. Als sie ins Detail ging, erfuhren wir, daß der Poggenpuhlsche Salon von einem Altmöbelhändler abgeräumt worden war, bis auf eine Ausnahme: »Von dem ollen Klavier konnt ich mich nicht trennen. Vielleicht krieg ich mal wieder Lust. Genau, paar einfache Sachen, Kinderszenen von Schumann oder so …«
    Dann wurden uns Anweisungen gegeben. Wir sollten, sobald sich irgendwas finde, ein Telegramm schicken. Aber selbst die Polizei, die auf Emmis Wunsch einer Vermißtenmeldung nachzugehen versprach, hatte kein Glück oder war, wie in Großstädten üblich, mit Suchanzeigen eingedeckt und – wie man zugab – überfordert. Schon übten wir den Gedanken ein, ohne Fontys Beistand in unserer Arbeit Sinn finden zu müssen, schon begannen wir, für ihn ein nebengeordnetes Archiv einzurichten, schon sprachen wir über Fonty wie von einem Toten, dem nach gründlicher und in die Breite gehender Vorarbeit nachgerufen werden müsse, schon schrieben wir uns versuchsweise ein, da kam Hoftaller ins Archiv.
    Er wolle sich nur verabschieden. Ihm stehe eine längere Reise bevor. Die ihm neuerdings gestellte Aufgabe lasse sich nicht verschieben. Nur soviel sei angedeutet: Spezialwissen wie seines und systemübergreifende Erfahrungen, an denen es ihm nicht fehle, würden derzeit, bei total verrutschter Weltlage, doch stets gleichbleibendem Sicherheitsbedürfnis, dringlicher denn je benötigt: »Hab ich ja immer gesagt: Im Prinzip ändert sich nichts.«
    Unser Gast hatte sich in Schale geworfen: dezent kariertes Tuch. Im Seidenfutter des Hutes konnte man das Signum einer Londoner Firma vermuten. Anstelle seiner abgelederten Aktentasche hing ihm ein Diplomatenkoffer an. Irgendwie verjüngt oder rundum erneuert kam er uns vor; altgedient und vernutzt war nur sein Lächeln, das sich dem Schmunzeln näherte, so gut gelaunt gab sich unser Besucher. Sogar Scherze wie »Richtig beneidenswert, die Stille hier« und »Ne Stellung wie diese, ganz ohne Außendienst, hätt ich mir gerne gewünscht« fielen ihm ein. Als wir den Sessel für Gäste anboten, sagte er: »Aber nur auf ein Viertelstündchen. Muß noch was erledigen, ne Formalität nur. Dann aber geht’s los. Bin schon lange berlinmüde.«
    Wir versuchten sein Reiseziel zu erraten: »Sie wollen doch nicht etwa nach Jugoslawien, wo nur noch Chaos herrscht?«
    »Hat Moskau Sie angefordert, weil nun, nach dem
    Putsch …«
»Ich hab’s! Ihr Sprachintensivkurs erlaubt uns,
Lateinamerika als Ziel zu vermuten.«
    »Geht’s etwa nach Kolumbien, mitten hinein in den Drogensumpf?«
    Hoftallers Schmunzeln mußte uns Antwort genug sein. »Mein Biograph«, sagte er, »der sich so gründlich mit der Langzeitperspektive Tallhovers befaßt

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