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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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geweihten Stammlokale in der Lychener Straße von der Vergangenheit eingeholt, schlimmer noch, preisgegeben und rückwirkend entblößt wurden, war in des Genesenden Studierstube alles Vergangene goldeswert. Sie, die gänzlich verhagelt und jedem Verdacht ausgesetzt auf Fontys leerer Bettstatt hockten, hörten vom Glück der Rückschau, von der sich Pelle um Pelle häutenden Zeit, von lange verschütteten, plötzlich wie neu glänzenden Fundsachen und von der Lust an dauerhaften Gerüchen, sobald im Frühling, wenn die Swine eisfrei war, am Bollwerk alles zu leben begann, die Schiffe an Land gezogen und auf die Seite gelegt wurden und Pech in eisernen Grapen brodelte, auf daß mit Werg die schadhaften Stellen der Schiffsrümpfe kalfatert werden konnten. Kartoffeln und Speckstücke, in die Glut geschoben, reicherten den Pechgestank an, der als Qualm über dem Bollwerk lag. So erfuhren wir vom Umzug der Apothekerfamilie nach Swinemünde. Wie eine Neuigkeit hörten wir das, sobald Fonty uns seine Fassung vom Blatt las. Wir, das waren meine Kollegin und ich, zudem die beiden, laut Aktenlage, mehr oder weniger enthüllten Prenzlberger und unvermeidlich: Hoftaller. Kein Wunder, daß uns die ohnehin vollgestellte Studierstube eng wurde. Wir saßen auf Stühlen, hockten dicht bei dicht auf der Bettkante oder standen, wie Fontys Tagundnachtschatten, im Hintergrund. Geboten wurde dem gemischten Publikum ein Stück in Fortsetzungen, das einerseits »Kinderjahre«, doch im Untertitel »Genesung« hieß. Fonty lieferte Querverweise zwischen Swinemünder Alltäglichkeiten, Effis Ehestand in Kessin und den geplauderten Erinnerungen der schauspielernden Pfarrerstochter Franziska in »Graf Petöfy«. Den beiden Poeten in Schwarz, die sich prinzipiell deprimiert gaben, spielte er vor, mit welchem Vergnügen er jenem Leutnant von Witzleben wiederbegegnet sei, der anno 31 mit einem Bataillon vom Regiment Kaiser Franz die Stadt an der Swine gegen die anrückende Choleraseuche abgesperrt und viel später des Unsterblichen Bücher über die drei einheitsstiftenden Kriege in einem Militär-Wochenblatt rezensiert habe. Hoftaller hörte das alles schweigend in sich hinein.
»Selbstverständlich«, rief Fonty aus seinem Armstuhl, »schrieb ich während meiner Soldatenzeit im besetzten Frankreich einem Nachkömmling jenes Leutnants aus Kinderjahren, dem Generalfeldmarschall von Witzleben, was zu ausführlicher Korrespondenz geführt hat. Hätte mich fast Kopf und Kragen gekostet, dieser Briefwechsel. Mein lebender Witzleben gehörte bekanntlich der mißglückten Offiziersrebellion an. Wurde gehängt, nachdem er vorm Volksgerichtshof altpreußische Haltung bewiesen hatte. Fragen Sie meinen altvertrauten Kumpan, der wird diese Zusammenhänge, die für mich glücklich ausgingen, bestätigen; hatte einen Schutzengel sozusagen.« Hoftaller lächelte wissend und zog an seiner Zigarre, die er mit Fontys Erlaubnis rauchte. Wir vom Archiv schwiegen, meine Kollegin machte sich fleißig Notizen. Die zwei vergrämten Poeten jedoch, denen die laute Welt draußen die Poesie vergällt und ein schnelles Urteil gesprochen hatte, suchten Trost bei solchen und ähnlichen Anekdoten. »Noch ne Geschichte!« rief der eine. Und der andere bettelte: »Wie war das, Fonty, als das feuerherdrote Haus himmelblau angestrichen wurde …« Beide beteuerten, nachdem diese Wünsche erfüllt waren: »Davon kann man nie genug hören.« Doch Hoftaller, der die Prenzlberger Szene – und in gewissem Sinn auch uns - unter Kontrolle hatte, ermahnte die jungen Leute, sich für diesmal zufriedenzugeben: »Wir werden unseren Freund nun mit seinen Bleistiften alleine lassen, damit er uns ganz und gar gesund wird. Wir wollen ihn doch nicht ausquetschen, etwa wie beim Verhör.«
Mit seinen Schützlingen ging Hoftaller. Wir blieben noch ein Weilchen. Fonty lüftete seine Studierstube so lange, bis nichts, kein Rüchlein mehr an den Qualm der kubanischen Zigarre erinnerte. Geschäftig räumte er auf und glich in seinem verfilzten Morgenrock einem Eremiten, der Pilger empfing und entließ. Uns, seine »Archivsklaven«, sah er mit Wohlwollen; und geradezu liebevoll genoß er die stilisierte Schwermut der beiden Anarchen vom Berg, kaum waren sie gegangen. Fonty, der, wie er sagte, »aus Tradition« mit Verdächtigungen und schuldhaften Verstrickungen lebte, hielt zu den Jungpoeten, deren Produkte er als »bibliophile Raritäten« schätzte. Sie mochten ihn an Lesungen im Tunnel über der Spree

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