Ein wilder und einsamer Ort
mageres kleines Mädchen — viel zu mager — mit
schulterlangem schwarzem Haar, das sich einrollte, genau wie meins, und langen
Ponyfransen.
»Das glaube ich wohl«, sagte ich, »aber
das ist nicht besonders klug, schon gar nicht nachts. Und warum sitzt du in
meinem Auto?«
»Ich mag rote Sportwagen. Mein Vater
hatte auch einen. Und außerdem warst du gestern nett zu mir. Und als ich
gesehen habe, wie du mit dem Auto angekommen und zu meiner Mom reingegangen
bist, habe ich mich rausgeschlichen.«
Ich war nett zu ihr gewesen. Ich hatte
ihr zugezwinkert, das war alles. Großer Gott, das Leben dieses Kindes mußte
genauso leer sein wie das seiner Mutter.
Als könnte sie meine Gedanken lesen,
fuhr Habiba fort: »Gestern, du weißt doch, wie du mir zugeblinzelt hast?«
»Ja?«
»Das war das Zeichen von meiner Mom,
wenn sie mich heimlich sehen wollte. Sie hat geblinzelt und so was gesagt wie
›Die Blumen beim Pavillon sind dieses Jahr wirklich hübsch«, und dann habe ich
gewußt, daß sie in einer Stunde dort auf mich wartet.«
»Du sagst, das hat sie getan. Tut sie’s
denn jetzt nicht mehr?«
»Schon lange nicht mehr. Sie sieht mich
gar nicht... und andere Sachen auch nicht. Sie ist schrecklich traurig, und
manchmal höre ich sie weinen. Darum war ich froh, daß du sie besucht hast.« Sie
drehte sich um und guckte in den Gepäckraum, wo ich meine Handtasche und Mavis’
Buch deponiert hatte. »Sie hat dir ihre Gedichtesammlung geschenkt. Das heißt,
sie hat sich gefreut. Wenn sie traurig ist, mag sie nicht mal über Gedichte
reden.«
»Ich glaube, zuerst war sie schon
traurig. Weißt du, warum?«
Sie zuckte die Achseln, sah auf ihren
Schoß und fummelte an dem Sicherheitsgurt herum.
»Bist du auch traurig, Habiba?«
»...Meistens schon. Und allein.«
»Vermißt du deinen Vater?«
»Schon, aber ich kann mich gar nicht
mehr richtig an ihn erinnern.«
»Ach? Aber du warst doch schon vier
oder so, als er weggegangen ist; da mußt du dich eigentlich schon noch an ihn
erinnern können.«
Sie schürzte die Lippen, als sei sie
dabei, eine schwere Entscheidung zu fällen. »Okay, ich hab gelogen; ich hab ihn
erst vor einem Monat das letztemal gesehen. Omi sagt, ich darf niemandem
erzählen, daß er mich besucht, weil meine Mutter es nicht erlauben würde, wenn
sie’s rauskriegen würde.«
Dachte das Kind sich das alles bloß
aus? Hamid war doch angeblich Vorjahren verschwunden. »Wie oft kommt er denn?«
»Zwei- oder dreimal im Jahr. Er bringt
mir immer was mit.«
»Wo wohnt er denn?«
»Ich weiß nicht. Er sagt, er ist viel
auf Reisen.«
»Und was für Sachen bringt er dir mit?«
»Letztesmal war es der Holzarmreif mit
den geschnitzten Papageien — hier.« Sie schob den Ärmel ihres Sweatshirts hoch
und streckte mir den Arm hin. Der Armreif war weiß und mit knallbunt bemalten
Papageien verziert. Er sah aus wie ein billiges Touristen Souvenir. Wenn Habiba
die Wahrheit sagte, mußte Hamid in den Tropen gewesen sein.
Ich trommelte mit den Fingern aufs
Lenkrad und fragte mich, ob der Geschenke bringende Papa nur eine sehnsüchtige
Phantasie war. Zwei meiner Neffen hatten die bitteren Scheidungsstreitigkeiten ihrer
Eltern mitmachen müssen, und die drei Kinder meiner jüngeren Schwester hatten
ihre jeweiligen Väter gar nie gekannt. Ich wußte aus eigener Anschauung, welch
reges Phantasieleben die Sehnsucht nach einem abwesenden Elternteil auslösen
konnte. »Bitte fahr mich spazieren«, sagte Habiba wieder.
»Gut, aber nur ein kurzes Stück.« Ich
ließ den MG an und kurbelte ihn aus der Parklücke. Fuhr bis zur nächsten Ecke
und bog rechts ein, um dann rechts und wieder rechts zu halten und schließlich
bei dem RKI-Wagen anzugelangen.
»Erzähl noch ein bißchen, wie das ist,
wenn dein Vater dich besuchen kommt«, sagte ich.
»Na ja, er bleibt immer nur ein paar
Stunden. Omi schickt vorher alle weg, außer Aisha — das ist meine Kinderfrau,
ihr traut sie, weil sie schon ewig bei uns ist. Zuerst reden mein Vater und Omi
in der Bibliothek. Dann kommen sie raus, und Aisha serviert uns Essen.« Sie zog
die Augenbrauen zusammen. »Er weiß gar nicht richtig, wie er mit mir reden soll.
Er fragt mich all die Sachen, über die Schule und was ich lerne und was ich
gemacht habe, aber ich weiß, daß er gar nicht hört, was ich antworte, weil er
immer schon drüber nachdenkt, was er als nächstes fragen soll. Manchmal kommt
Onkel Klaus mit; dann ist es besser.«
Khalil Latif hatte gesagt, Dawud sei
Mrs.
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