Ein wildes Herz
nachdem das Licht im State Theater erloschen war, die ersten Bilder über die Leinwand flackerten und sie zum ersten Mal diese riesigen, schönen Gesichter sah und sie auf diese ganz besondere Weise reden hörte, die aus keinem Land zu stammen schien außer dem Land des Kintopps, gehörte Sylvan ihm bereits nicht mehr. Von jenem Abend an war sie dem Kino verfallen, und zwar mit Haut und Haaren.
Der Film, den sie sahen, war Tote schlafen fest. Die Handlung erschloss sich Sylvan überhaupt nicht, doch da war Lauren Bacall, ein Mädchen, fast so jung wie sie, das sich sozusagen selbst erfunden hatte – so schien es wenigstens –, und sie verliebte sich in Humphrey Bogart, einen Mann, der so total und komplett er selbst war wie nur möglich. Sylvan spürte tief in ihrem Herzen, dass er nicht einmal schauspielerte; er war einfach der Mann, der so redete, wie er redete, der rauchte wie ein Schlot und ganz offensichtlich so alt war, dass er Bacalls Vater hätte sein können. Sie wusste auf der Stelle, dass sie die Bacall war, und auf einmal fühlte sich das schwarze Seidenkleid von Grossman langweilig und kratzig auf ihrer Haut an, als würde es ihr nicht richtig passen, gar nicht ihr gehören. Und dass Boaty nicht Bogart war, lag auf der Hand.
Sylvan merkte sich jede Naht an den Kleidern, die Bacall trug, den Schnitt eines Kostüms, das Fließen eines Rocks, das Glitzern einer Brosche, und all die Worte, die die Figuren sprachen, strömten an ihr vorbei, als wäre es eine Sprache, die sie nie gehört hatte, eine Sprache des Geldes und der Musik. Sie stellte sich vor, wie ihr eigenes Haar aussehen würde, wenn es so fiel, lauter schimmernde Wellen rund um ihr Gesicht. Sie sah sich weniger den Film selbst an als die
Art und Weise, wie Lauren ihre schönen Lippen bewegte, und sie hörte, wie sie jedem Wort Sexappeal und Glamour einhauchte. Sie stellte sich Lauren Bacalls Körper vor, wie er sich unter diesen Kleidungsstücken bewegte, und sah in Bogarts Augen, dass er das Gleiche dachte.
Am nächsten Tag, als Boaty weg war, stand sie vor dem Spiegel, senkte das Kinn, hob den Blick und schaute ihr Spiegelbild genau so an, wie Bacall Bogart angeschaut hatte, versuchte mit den Lippen die Töne und Silben zu bilden, wie sie aus Bacalls Mund gekommen waren. Stundenlang übte sie, bis ihr schließlich bewusst wurde, dass sie nicht die Bacall war, dass sie nicht ihren Körper hatte, und dass ihr von all dem Senken des Kinns auf die Brust der Nacken wehtat. Sie war jemand, aber Lauren Bacall war sie nicht.
An diesem Abend, beim Essen, sagte Sylvan zu Boaty: »Harrison? Werden wir Flitterwochen machen?«
Die Frage kam für ihn völlig überraschend. Er hatte eigentlich gedacht, genug Geld für sie ausgegeben zu haben.
»Hatte ich nicht vor, Baby.«
Sie stand vom Tisch auf, setzte sich auf seinen Schoß und schlang die Arme um ihn. »Aber, Harrison, Liebling, ich würde gerne. Das macht man doch so. Selbst mein Daddy und meine Mama haben das damals gemacht. Und ich will auch.«
Er sagte nichts. Sie küsste ihn auf den Hals, und er roch das Parfüm, das er ihr bei Grossman’s gekauft, hatte: Eau de Nile von Elizabeth Arden. »Ich finde, das wäre toll.« Sie küsste ihn wieder, und er spürte, wie ihre Zunge über seinen Hals wanderte und eine kleine feuchte Stelle hinterließ, die er eigentlich nicht mit der Hand abwischen wollte, aber dann tat er es doch.
»Und wo würdest du gerne hinfahren? Ich sag ja noch nicht, dass … Was meinst du? Niagara-Fälle? Ich höre, das ist sehr beliebt.«
»Ich möchte nach Hollywood, Kalifornien.«
Er lachte. »Was redest du da? Bis da rüber? Wozu zum Teufel?«
»Ich möchte sehen, wo sie leben. Diese Filmstars. Ich möchte in den Restaurants essen, wo sie essen. Im Brown Derby. Ich will das Studio von Warner Brothers besichtigen, wenn das geht, und anschauen, wo sie diese Filme drehen. Ist das weit weg?«
»Es ist auf der anderen Seite des Kontinents. Quer rüber. Dauert fünf Tage mit dem Zug.«
»Ich bin noch nie mit dem Zug gefahren. Ich möchte mit dem Zug nach Hollywood fahren und einen Filmstar in echt sehen. Bitte, Daddy.«
Er schien etwas verwirrt.
»Werden wir im Zug schlafen?«, fragte sie.
»Ja, wenn … ja, wir könnten einen Schlafwagen nehmen und im Zug schlafen. Und in diesem verdammten Zug auch essen und uns die Zähne putzen.«
»Ganz allein?«
»Ja, natürlich ganz allein.«
»Ich würde so nett zu dir sein, mein Schatz. Ganz, ganz lieb würde ich
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