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Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
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sagten die Leute, das sich was einbildete, und doch konnte keiner umhin, beeindruckt von ihr zu sein.

    Jedes Jahr zu Ostern zog sie eine richtige Show ab, und hätte es in dieser Stadt einen offiziellen Osterspaziergang gegeben, bei dem jeder seine neuesten Kleider vorführte, so wäre sie jedes Jahr der Star gewesen. Als sie zehn Jahre alt war, begann Claudie andere kleine Mädchen auszustaffieren, weiße Mädchen, und die waren immer höchst zufrieden, auch wenn Claudie ihre Fähigkeiten am liebsten für ihre eigene Garderobe anwandte. Manchmal benutzte sie ein Schnittmuster, aber allermeistens dachte sie sich einen Schnitt einfach aus.
    Claudie besuchte die kleine Schule, die zur Kirche gehörte, doch eine besonders aufmerksame Schülerin war sie nicht, weil sie sich immer mit Nadel und Faden zu schaffen machte, während sie doch Geschichte oder Rechnen hätte pauken sollen, und nach einer Weile gaben die Lehrer einfach auf, ihr etwas beizubringen. Und so war es gekommen, dass sie in gewisser Weise vollkommen ahnungslos durch die Welt ging, während sie doch in anderen Bereichen alles wusste, was sie brauchte. Ihre Großmutter arbeitete als Putzfrau und versah an verschiedenen Tagen in verschiedenen Haushalten ihren Dienst, und die Frauen in diesen Häusern schenkten ihr alte Zeitschriften, in denen moderne Frauen in Kleidern und Abendroben und Kostümen abgebildet waren, und dann gab ihre Großmutter die Hefte an Claudie weiter, die sie so genau studierte, als würde sie die Bibel lesen. Manchmal nähte sie dann mit leeren Händen und nicht vorhandenem Material unsichtbare Kleider, genau wie die, die sie in den Zeitschriften der weißen Frauen gesehen hatte, bei denen ihre Mutter und Großmutter die Böden wischten.
    Irgendwann bekam sie dann doch ihre ersten Aufträge, und wenn Claudie ihnen dann ihre neuen Kleider brachte,
fragten die weißen Frauen immer: »Was sind wir dir schuldig?«
    »Was Sie für richtig halten, Madam«, antwortete Claudie, weil sie keine Ahnung hatte, was Kleider kosteten. Und die meisten Frauen, die die Fingerfertigkeit dieses Mädchens bewunderten, gaben ihr mehr, als sie eigentlich vorgehabt hatten. Claudie hatte das geschickt eingefädelt. Im Alter von vierzehn Jahren war sie eine der wenigen Schwarzen in der Stadt, die ein Giro- und ein Sparkonto bei der Bank besaßen. Auch das hob sie von den anderen ab  – zusammen mit der Farbe ihrer Haut, die sehr hell im Vergleich zu der ihrer Nachbarn war  –, und so gab sie ihrer Umwelt das Gefühl, zu niemandem zu gehören und keine Regeln zu befolgen, außer denen, die ihr nützlich waren, zum Beispiel immer höflich zu ihren Kundinnen zu sein. Niemals schmierte sie ihnen Honig um den Bart oder wäre sogar so weit gegangen, den Mädchen und Frauen zu sagen, sie sähen besser aus denn je. Sie gab ihnen einfach nur das Gefühl, dass sie besser aussahen, als wenn sie nicht zu Claudie Wiley gekommen wären, und das genügte, um ihre Börsen zu öffnen und das Geld fließen zu lassen.
    Claudies Großmutter war gestorben, als sie fünfzehn war, und ihre Enkelin war allein zurückgeblieben  – ein Mädchen praktisch ohne Schulbildung, das weder kochen noch sein Haus sauber halten konnte. Doch Claudie machte mit ihrem Leben weiter, ohne mit der Wimper zu zucken, lebte auf so geringem Raum wie nur möglich und ließ den Rest des Hauses langsam zur Ruine verkommen. Nur das eine Zimmer im Erdgeschoss, in dem sie ihre Kundinnen empfing, hielt sie makellos sauber, während das Haus um sie herum allmählich verwahrloste.
    Die Leute machten sich Sorgen. Schwarze wie Weiße redeten
bei sich zu Hause darüber, was zu tun wäre, doch niemand konnte sich recht vorstellen, was genau das sein könnte, und an Claudie perlte die Besorgnis der anderen einfach ab, es ließ sie unberührt. »Mir geht’s gut«, pflegte sie zu denjenigen zu sagen, die kühn genug waren, sie zu fragen. »Macht euch um mich keine Gedanken.«
    Und es ging ihr tatsächlich gut, soweit das jemand beurteilen konnte. Claudie war erwachsen geworden. Das magere kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war, gab es nicht mehr. Sie war zu einer großen Frau mit einem großen Hintern und einem großen Busen herangewachsen. Schön war sie nicht, aber sie sah gut aus, und ihre besondere Gabe schenkte ihr eine Aura, die der Schönheit nicht bedurfte. Manche hätten sie für hässlich gehalten, bis man ihren Gesichtsausdruck sah, wenn das Gespräch auf Frauenkleidung kam  – dann änderte

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