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Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
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jeder sofort seine Meinung. Und sie hatte diese Finger, diese langen, dünnen Finger, wie die Zinken einer Gabel, Finger, die taten, was sie wollte, lange bevor sie es ihnen sagte.
    Die Frauen begannen von überall her zu ihr zu kommen und brachten immer schickere Ideen und immer außergewöhnlichere Photos mit, aus Zeitschriften, von denen Claudie noch nie gehört hatte. Sie nahm sie alle bei sich auf, behandelte sie mit der gleichen Höflichkeit, sah mit dem präzisen Auge eines Chirurgen, wie sie gebaut waren, hörte sich die oft absurden Vorstellungen an, die sie von sich selbst hatten, und dann führte sie eine jede mit sanfter Hand von ihren Schnapsideen weg und zu dem, was für sie möglich und gut war, und dafür waren die Frauen ihr dankbar. Sie bezahlten ihr sogar noch mehr dafür.
    Eine von ihnen, eine Frau, die jeden Monat ein Mal den weiten Weg von Charlottesville über die Berge fuhr, hatte
die Idee, Claudie solle eine schicke Modeschule besuchen. Claudie hatte seit ihrer Kindheit heimlich Modezeichnungen angefertigt und sie eines Tages schüchtern jener Frau gezeigt, Seite um Seite voller dünner, weißer Frauen in Ballkleidern und Hochzeitsgewändern und Cocktailkleidern und Kleidern für nachmittägliche Einladungen zum Tee, die Claudie niemals besuchen würde. Die Frau war davon überzeugt, dass Claudie eine große Zukunft habe; sie sah für sie eine Möglichkeit, aus dieser Stadt, ihrem schmutzigen Haus und diesem einsamen Leben herauszukommen, und bot Claudie dafür ihre Hilfe und ihr Scheckbuch an.
    Sie hatte alles für Claudie getan. Sie wählte die Schule, weit weg in Boston. Sie suchte aus den Zeichnungen die zwei Dutzend schicksten und schönsten aus, füllte für Claudie die Bewerbungsformulare aus und las ihr sogar das Antwortschreiben vor, das im Frühjahr kam und in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie angenommen war. In jener Nacht träumte Claudie von Pelzen und Hüten und von Schmuck, von Kaufhäusern  – alles Dinge, die sie noch nicht einmal auf Bildern gesehen hatte, während die Frau bei sich zu Hause am Tisch saß, sich von schwarzem Personal bedienen ließ und ihrem Mann erzählte, wie wichtig dieser Moment sei, in dem sie Claudie ein neues Leben aufbauen würde, ein Leben, das keine schwarze Frau zuvor jemals hatte führen können.
    In jenem Sommer nähte sich Claudie, die gerade siebzehn wurde, die Kleider, die sie brauchen würde, um eine Schule in einer Großstadt im Norden zu besuchen. Die Frau kaufte ihr Strickjacken und dünne Pullover dazu, die man darunter tragen konnte, und schenkte ihr eine zweitklassige Perlenkette, die sie im Jahr zuvor beim Bazar der episkopalen Kirche erstanden hatte. Sie schenkte ihr Kniestrümpfe, die für
Claudie vollkommen ungeeignet waren, weil sie den größten Teil des Tages barfuß und in unförmigen Kleidern herumlief und die Kleider aus ihrem vollgestopften Schrank nur für sich allein trug, Kleider, die es mit Modellen aus aller Welt hätten aufnehmen können. Doch zugleich war sie auch sehr aufgeregt und arbeitete hart daran, aus sich jemanden zu machen, der sie nie gewesen war, eine Art Phantasmagorie jener Frau, die sie vielleicht einmal sein könnte.
    Zwei Tage, bevor sie nach Boston reisen sollte, kam die Frau von Charlottesville herüber und holte sie ab. Claudie schloss ihr Haus ab und verließ die Stadt, ohne sich von einer Menschenseele zu verabschieden. Sie verbrachte die Nacht im Gästezimmer der Frau in Charlottesville, nicht einmal im Zimmer des Dienstmädchens, und schlief in jener Nacht im besten Bett unter dem besten Bettzeug, das sie je auf ihrer Haut gespürt hatte.
    Mitten in der Nacht richtete sie sich in dem Bett auf und betrachtete lange Zeit all die funkelnagelneuen Kleider in ihrem Koffer, so säuberlich gefaltet und noch nach den Läden riechend, aus denen der Stoff kam. Dann packte sie alles aus, hängte jedes Teil auf einen Kleiderbügel im Schrank, und dann nahm sie ihren leeren Koffer und machte sich dafür bereit, jenes Haus und jenes Leben und jene Bettlaken für immer hinter sich zu lassen.
    Sie ließ alles, was die Frau ihr geschenkt hatte, auf der Spiegelkommode liegen  – ihr Zugticket in die Zukunft, selbst die Perlen, und ging durch die fremden Straßen dieser größten Stadt, die sie jemals gesehen hatte, vorbei an den Schaufenstern der Läden voller Tweedsakkos für die Jungs auf dem College und züchtigen Kleidern für die Ehefrauen der Universitätsangestellten, und wunderte sich darüber, wie

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