Ein wildes Herz
kam, siebzehn Jahre alt und mit einem Stapel Zeitschriften aus Hollywood in den Händen, und Claudie mit einem Blick wusste, wer und was sie war, woher sie kam und was sie von ihr wollte.
Es war wie ein Kribbeln in ihren Fingern.
9. KAPITEL
I ch bin Sylvan Glass und möchte mir von Ihnen ein paar Kleider machen lassen.«
Claudie betrachtete dieses große Mädchen, das da auf ihrer Veranda stand, in den Händen einen Stapel Zeitschriften. In diesem Moment durchlief sie ein Schauder, denn ihr schien, als habe sie genau das Modell vor sich, für das sie bereits ihr ganzes Leben lang Kleider entwarf. Die Formen. Die Kurven. Die Haltung. Und da war sie nun, stand vor ihr auf der Veranda neben dem modrigen alten Sofa, auf dem ihre Großmutter gestorben war. Das alles ließ Claudie auf sich wirken, und sie sah die Modelliermasse, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte, die Grundlage für das perfekte Modell weißer Frauen, das sie schon immer beschäftigt und fasziniert hatte.
»Nun, dann kommen Sie doch mal rein, Ma’am.«
Sylvan lachte. »Bitte nennen Sie mich nicht Ma’am. Ich bin erst siebzehn Jahre alt und fühle mich wie eine alte Dame, wenn Sie das sagen. Nennen Sie mich Sylvan. Es heißt, Sie könnten alles nähen, was man will. Ich konnte es nicht erwarten, Sie kennen zu lernen. Bin buchstäblich verrückt darauf. Hier, nehmen Sie«, sagte sie, drückte Claudie die Zeitschriften in die Hände, lief zu dem schnittigen weißen
Cabrio, das Boaty ihr gekauft hatte, und kam mit einem Dutzend Stoffballen zurück.
Sie traten durch die löchrige Fliegentür in den schummrigen Flur, der zur Schneiderwerkstatt führte. Sylvan entgingen weder die kaputten Stühle und der staubige Plattenspieler mit Schlagseite noch die Stoffreste auf dem Boden und der Geruch nach Katze. Sie hoffte bloß, dass es in dem Haus keine Schlangen gab. Da, wo sie herkam, hatte sie Schlimmeres gesehen. Und es störte sie nicht im Geringsten.
In der Schneiderei standen ein großer Holztisch und zwei Stühle, und Claudie ging im Zimmer umher, schaltete die Lichter ein, bis alles hell erleuchtet war und Sylvan sehen konnte, dass es hier blitzsauber war. Auch eine Schneiderpuppe gab es, eine alte Holzkiste mit verschiedensten Arten von Scheren, ein Nähkästchen sowie eine funkelnagelneue Singer-Nähmaschine. Nirgendwo war zu erkennen, dass hier auch jemand lebte oder wohnte, nur Hinweise auf Claudies Arbeit. Sylvan hatte gehört, dass sie eine Tochter habe, doch es war niemand zu hören oder zu sehen, und man hatte auch nicht das Gefühl, der Raum werde zu etwas anderem genutzt als seinem eigentlichen Zweck.
»Ich habe Sie schon gesehen. Sie sind mit Mr. Glass verheiratet.«
»Bitte nennen Sie mich Sylvan.«
»Das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Ist nicht meine Art. Die Leute hier … Was genau haben Sie denn im Sinn?«
»Kleider. Ein Kostüm. Ein paar Röcke und Blusen. Ich weiß nicht, ob Sie die auch machen können.«
»Ich kann alles machen.«
»Das habe ich schon gehört. Von Bildern?«
»Von Bildern. Von Schnittmustern. Von irgendeiner Idee, die Sie im Kopf haben, wenn Sie mir genau erklären können, was Sie meinen.«
»Ein paar Bilder habe ich.« Sylvan zeigte auf die Zeitschriften, die eine Menge Eselsohren hatten. »Ich war gerade in Hollywood, Kalifornien, und habe so viele Sachen gesehen. Ich glaube, ich habe sogar Miss Joan Crawford gesehen. Sah jedenfalls so aus wie sie. Und ich besitze all die Zeitschriften über Filmstars. Miss Lauren Bacall. Sie ist auch mit einem alten Mann verheiratet, wie ich. Es gibt Bilder davon, was die Filmstars anhaben, wenn sie im Brown Derby essen, und was sie tragen, wenn sie sich gegenseitig besuchen, zum Tee oder zum Kartenspielen und so weiter.«
»Woher kommen Sie? Nicht aus der Gegend, oder?«
»Doch, schon. Von ganz in der Nähe, auf dem Land.« Sylvan ließ es so klingen, als käme sie von einer großen Plantage, wo es viele Bedienstete und Fuchsjagden gab. Aber Claudie wusste es besser.
»Und wie war das für Sie?«
»Na ja, jetzt bin ich hier in der Stadt, stimmt’s?«
»Sie reden wie jemand aus dem Radio.«
»Ich hoffe. Das übe ich schon eine ganze Weile. Lächeln tun Sie aber nicht viel.«
»Gibt hier auch nicht viel zu lachen.«
»Die meisten farbigen Frauen hier lachen die ganze Zeit.«
»Ich nicht.«
»Nein. Denke ich mir.«
»Ich nähe Kleider. Und ich bin richtig gut. Da können Sie jeden fragen. Ansonsten kümmere ich mich um meinen
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