Ein wildes Herz
in einem kratzigen neuen Wollanzug und einem blütenweißen Hemd, an das eine Fliege geheftet ist, all das bei Mr. Swink in Lexington gekauft, dieser kleine Junge sitzt auf einem harten Holzstuhl in einem fast leeren Gerichtssaal in Lexington. Es tagt das County-Gericht von Rockbridge County im Bundesstaat Virginia. Der Junge begeht einen Meineid nach dem anderen, er lügt und lügt, bis sie einfach aufhören, ihm Fragen zu stellen. Er weiß, er wird in die Hölle kommen, wenn er lügt, aber wenn er zwanzig Lügen sagt, ist das auch nicht schlimmer als eine einzige Lüge, er lügt, weil er weiß, dass das, wonach sie ihn fragen, mit der Vereinbarung zu tun hat, die er vor langer Zeit mit Charlie getroffen hat, nämlich über bestimmte Dinge mit niemandem zu reden, und weil er weiß, wenn er es doch tut, dann wird Charlie etwas Schreckliches passieren, das viel schlimmer ist als die Feuer der Hölle, von denen er weiß, dass sie auf ihn warten.
Sei ein braver Junge, hatte seine Mutter ihm gesagt, sag einfach die Wahrheit. Doch er wusste, dass er das nicht konnte; zwar war ihm nicht klar, was genau denn passieren würde, wenn er alles verriet, Charlie hatte es ihm nie gesagt,
aber bestimmt würde es schlimmer sein als aller Schmerz, den er je erlebt hatte, schlimmer als in dem grauen Flusswasser vergeblich nach Luft zu schnappen, nicht mehr sehen, nicht mehr atmen zu können, bis er schließlich aufgegeben hatte und unterging. Schlimmer als das.
Als er damals Charlie sein Versprechen gab, an jenem kalten Herbsttag im Pick-up, da wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen zu hinterfragen, was denn ein solches Versprechen bedeuten könnte oder wie er es halten sollte, wenn die Zeit gekommen war. Man hatte ihn dazu erzogen, die Wahrheit zu sagen, und das tat er auch, und wenn man ihn fragte, so gab er auch immer auf dieselbe ehrliche Art Antwort. Ja, er hatte den Stein geworfen und die Fensterscheibe zerbrochen. Nein, seine Hausaufgaben hatte er nicht gemacht. Seine Mutter behauptete, es sei viel einfacher, wenn man die Wahrheit sagte, weil man sich dann nicht merken musste, was man gesagt hatte; und wenn einem die Frage noch einmal gestellt wurde, dann antwortete man automatisch gleich.
Die erste Lüge fiel ihm am schwersten, weil es seine Mutter war, die die Fragen stellte, und er liebte sie. Er wusste, dass sie nicht wollte, dass er in die Hölle kam, und dass sie das nicht verdient hatte, weder von ihm noch von sonst jemandem, und er begriff auf der Stelle, dass sie wusste, dass er log. Und dass jedes Mal, wenn er log, diese Lüge so klar zu durchschauen war wie das Glasfenster, bevor der Stein hindurchflog.
Dinge gehen so leicht kaputt, und wenn sie es erst einmal sind, dann kann man sie auch nicht mehr reparieren. Sie heilen nicht. Und sie kommen nie wieder.
»Nein, Ma’am«, sagte er, er habe Charlie und Mrs. Glass nie zusammen gesehen. Seine Mutter schaute ihn ganz komisch an, ein kurzes, winziges Zögern, bevor sie wieder
blinzelte, und da wusste er, sie würde ihn nie mehr anders ansehen als so, ihn nie wieder so anschauen wie früher. Sie sah traurig aus, irgendwie gebrochen, als wäre etwas passiert, mit dem sie von nun an leben müsse.
»Bist du sicher? Niemals?«
»Nein, Ma’am. Nie. Ich bin mir sicher.«
»Nicht ein Mal?«
»Sie kam in Daddys Metzgerei. Ich schätze …« Er blickte ihr unverwandt in die Augen. Es war schrecklich, und es schnitt in sein Herz wie mit einem Messer. Es war ein Schmerz, der ihm durch und durch ging.
»Ich meine, außerhalb der Metzgerei. Allein.«
»Nein, Ma’am. Nie allein.«
Was ja auch fast der Wahrheit entsprach. Denn bis auf jenes allererste Mal, wo er draußen im Pick-up gewartet hatte, war er immer dabei gewesen, und folglich waren sie auch nicht auf die Art und Weise allein gewesen, die sie meinte. Auch Jackie Robinson war da gewesen, und selbst ein Hund zählte doch irgendwie, oder?
»Eines musst du bedenken, Sam. Denk immer daran. Wenn du dich schlecht benimmst oder einen Fehler machst, dann kannst du dich später besser benehmen oder den Fehler wiedergutmachen, und niemand hat etwas dagegen. Aber wenn du lügst, auch nur einmal, wirst du immer ein Lügner sein. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Verstehst du das?«
»Ja, Ma’am.«
Jede Lüge war wie ein Messerstich in sein Herz, aber bei jedem Mal war es leichter, der Schmerz wurde weniger, und sein Gehirn verhärtete sich um die Tatsache herum, dass er ein Mensch geworden war, der nicht die
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