Ein wildes Herz
Wahrheit sagte und es nie wieder tun würde.
Das mit den Lügen und den Fragen erzählte er Beebo nicht. Beebo wusste es, und er schien den Jungen mit neuem Respekt zu behandeln und begegnete ihm mit noch größerer Freundlichkeit als zuvor. Sie beide brauchten nicht darüber zu reden. Es war einfach eine Tatsache, und dieser Tage hatte jeder seine Geheimnisse, und jeder log. Log über das, was er wusste. Log über das, was er war.
Sie gingen wieder einmal angeln, die beiden ganz allein, mit dem Hund, und hielten auf dem Gipfel des House Mountain nach Adlern Ausschau. Sam hatte die Welt noch nie von so weit oben gesehen. Das Tal lag vor ihnen ausgebreitet wie ein Teppich, und er stellte Tausende von Fragen, die Charlie alle geduldig und mit großer Behutsamkeit beantwortete, und er zeigte ihm, wo ihre Stadt lag, Sams Haus, ein winziges Pünktchen unter Tausenden von anderen winzigen Pünktchen. Und Charlie zeigte ihm auch all die Farmen und Flüsse und den Wasserfall, die ihm einmal gehört hatten.
Ihre Freundschaft war enger und noch beständiger geworden, als sie es je gewesen war, doch irgendwie fühlte es sich auch wie ein Abschied an. Sam lernte, dass man nicht unbedingt alles sagen musste, was einem in den Sinn kam, ja, dass sogar die meisten Dinge, die einem in dem Sinn kamen, im Grunde ungesagt und unbemerkt blieben, auch wenn man sich später über sie wunderte oder sich Gedanken darüber machte. Er wusste nicht einmal, was man Charlie eigentlich vorwarf, aber er hütete sich davor zu fragen.
In den Wochen vor dem Prozess kam ihm Charlie die ganze Zeit nervös vor. Er gab sich Mühe, Sam aufzumuntern, obwohl sie nie darüber redeten, was eigentlich der Grund dafür war, dass es Sam schlecht ging. Er wusste es einfach und war manchmal kurz davor zu weinen, aber darüber
redeten sie nicht, nur über andere Dinge, aber insgeheim wusste Sam, dass Charlie versuchte, ihm all seine Kraft und seinen Mut zu vermitteln.
Charlie fuhr den Jungen den ganzen Weg nach Lexington, um ihm ein Softeis zu kaufen, und dann gingen sie in ein Kino, sie beide ganz allein. Sie sahen Red River, und selbst Sam fand, dass Charlie wie der Schauspieler in dem Film aussah. Eines Nachts zeigte Charlie zum Himmel und benannte einen Stern nach Sam Haislett, doch als der Junge am nächsten und übernächsten Abend nach ihm suchte, konnte er ihn nicht mehr finden.
Jetzt, an einem warmen Oktobertag, an dem alle Fenster im Gerichtssaal offen standen, tat Sam, was er für richtig hielt, obwohl er gleichzeitig wusste, dass es falsch war. Er verriet nichts.
Außer dem Richter, den Anwälten und den Justizbeamten befanden sich nur wenige Menschen im Gerichtssaal. Da war ein Polizist, der Sam nie aus den Augen ließ. Seine Mutter und sein Vater. Claudie Wiley. Der Mann, der ihm Fragen stellte. Charlie und sein Anwalt, Charlie in einem funkelnagelneuen Anzug von J. Ed Deavers an der Main Street. Seine Krawatte saß zu eng an seinem Hals. Sein Bruder Ned war da, der aussah wie der Leibhaftige. Die einzigen Leute, die aus der Stadt gekommen waren, waren die Zwillingsschwestern, und sie saßen direkt hinter Charlie. Sie waren zu alt, um sich darum zu scheren, dass ihr Priester gesagt hatte, sie sollten nicht zum Prozess gehen, sonst würden sie zur Hölle fahren, und außerdem fanden sie, wenn sie einen Tag im Gericht saßen und Charlie Beale zeigten, dass er doch noch Freunde auf der Welt hatte, würde das wohl auch keinen großen Unterschied machen, was ihr Schicksal für die Ewigkeit anging.
Und natürlich saß da am anderen Tisch Mrs. Glass, ganz in Schwarz, mit einem Hut und kurzen weißen Handschuhen, und hinter ihr ihr Ehemann, so aalglatt wie Seide und so ruhig, dass man glauben mochte, er schlafe, bloß dass er mit seinen schwarzen Boatwright-Augen Sam permanent anstarrte, und selbst er wusste, dass Sam log, jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte.
»Weißt du, was Lügen ist, Sam?«, fragte der große, hässliche Staatsanwalt.
»Ja«, sagte Sam. Das wusste er natürlich, und wenn er sonst gar nichts wusste.
»Was ist Lügen, Sam?«
»Das ist, wenn man nicht die Wahrheit sagt.«
»Und was passiert mit kleinen Jungs, die lügen?«
»Sie kommen in die Hölle«, sagte Sam so leise, dass der Richter ihn bat, seine Antwort noch einmal zu wiederholen.
»Sie kommen in die Hölle.« Sam schrie es fast.
»Ja!«, schrie der Anwalt zurück. »Aber weißt du, wo sie vorher noch hinkommen? Sie kommen ins Gefängnis. Sie kommen ins Gefängnis,
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