Ein wildes Herz
Liebe hätte leben sollen, nichts war, nur eine große Leere, und eine schreckliche Stille hatte sich auf Charlie Beale herabgesenkt, eine Stille, in der nur er lebte, die ihn nicht schlafen ließ und in der kein Ton aus seinem Munde kam, wenn er ihn öffnete.
»Reverend. Danke, dass Sie gekommen sind. Für mich ist jetzt Zeit zum Abendessen.«
»Ich wollte nicht kommen, Mister Beale. Und jetzt will ich nicht gehen. Ich möchte Sie nicht alleine lassen.«
»Mein Bruder ist hier. Er leistet mir Gesellschaft.«
»Ich rette Seelen, Mister Beale. Das tue ich seit meinem zehnten Lebensjahr, damals in einem Zelt in Memphis. Ich habe in tausend Augen geschaut und sowohl die Gnade als auch das Verderben gesehen, das dahinter lebt wie in einem Haus. Und jetzt schaue ich in Ihre Augen, Mister Beale. Ihr Haus ist sauber.«
»Nicht jeder wird gerettet, Reverend. Selbst Sie …«
»Ja. Ich weiß, Mister Beale. Selbst ich …«
»Also.«
»Dann wären wir fertig.«
»Ich fürchte, ja. Aber ich bin Ihnen dankbar.« Charlie streckte die Hand aus, und der Reverend schüttelte sie.
»Sie werden erlöst werden, Bruder. Die Erlösung wird kommen. Für jeden von uns.«
Charlie schaute dem Reverend in die Augen und erhaschte einen Blick auf etwas, das in der Zukunft lag, und der Reverend erwiderte Charlies Blick und sah darin die Geschichte der ganzen Welt bis zu diesem Moment.
26. KAPITEL
N ed machte sich Sorgen. Er war gereizter Stimmung.
Er war den ganzen Weg hierhergekommen, um Charlie zu helfen, weil Charlie gesagt hatte, er brauche Hilfe, aber er konnte nichts für ihn tun. Charlie wollte sich keinen Anwalt nehmen, er wollte weder gestehen noch leugnen, er hielt sich einfach nur über Wasser und lebte mit seinem Körper und mit dem, was er sagte, in einer stählernen blauen Stille, die nicht durchbrochen werden konnte. Ned rauchte das erste Viertel von achtzig Zigaretten am Tag. Er leerte Aschenbecher und kehrte die Kippen von der Veranda, von dem Moment an, wo er aufstand, bis zu dem, wo er ins Bett ging. Lucky Strikes. Sie kosteten fünfzehn Cent pro Packung. Er machte Charlie die Wäsche, die dieser einfach irgendwo liegen ließ. Er brachte ihn dazu, sich umzuziehen, wenn die Sachen schmutzig waren. Er kochte für ihn, weil Charlie Will und Alma mit seiner Anwesenheit nicht noch mehr belasten wollte als nötig.
Alles störte Charlie. Es gab nichts, was ihn nicht verdross. Dass er sich an heißem Essen die Zunge verbrannte und ihm von kalten Getränken die Zähne wehtaten. Wie seine Kleidung an seinem Körper saß, wie die Baumwolle an seinem Rücken klebte und der Denimstoff seiner Jeans
an den Beinen. Wie das Kissen sich des Nachts um seinen Kopf schmiegte, wenn er sich hin und her warf, weil er nicht schlafen konnte, um dann schließlich aufzustehen, irgendwelche armseligen Klamotten überzuwerfen und zum Fluss hinauszufahren, zu seinem letzten Grundstück, mitten in der Nacht, um auf den dicken, fetten Mond zu blicken und auf das erste Vogelzwitschern zu warten, verdrossen, verärgert.
Doch nichts störte ihn so sehr wie Jackie Robinson, der Charlie brennende Tränen der Liebe in die Augen trieb, nur um einen Moment später in ihm den Drang zur Grausamkeit zu wecken. Er hasste die erbärmliche Art, mit der der Hund zu ihm aufblickte und ihm gänzlich ergeben war, obwohl Charlie ihn vernachlässigte. Da ist etwas an der Hilflosigkeit, das uns die Hilflosen verachten lässt. Und da ist etwas an der Verzweiflung, das es uns unmöglich macht, Zuneigung zu ertragen. Wenn Charlie im Haus auf und ab wanderte, folgte ihm der Hund überall hin, war ihm mit der Schnauze auf den Fersen, was manchmal rührend war, dieser Gleichklang ihrer Schritte – das harten Klacken von Charlies Absätzen auf dem Holzboden, das sanfte Tapsen von Jackie Robinson. Störend, endlos.
Manchmal hielt er den Hund in den Armen, zärtlich und voller Liebe, legte den Kopf an Jackies Rücken und ließ ihn dort ruhen, weil er wusste, dass der Hund sich an ihn schmiegen würde. Und dann, nur einen Moment später, wollte er nichts so sehr, wie ihn loszuwerden, bloß weil Jackie sich wand, weil er ihm das Gesicht ablecken wollte, weil er sein Handgelenk sanft in sein Maul nehmen wollte, weil er ihn liebte, meine Güte, und das konnte Charlie einfach nicht zulassen. Manchmal dachte er, der Hund würde ihn verrückt machen.
Jackie Robinson war verängstigt, verwirrt von all den Signalen, die er nicht zu deuten vermochte, er wusste sich nicht
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