Ein zahnharter Auftrag
»Sie müssen die Germania Dracona nur aus dem Boden ziehen.« Er holte die Hände aus den Manteltaschen und sah auf die Uhr. Sie hatte ein knallrotes Plastikarmband und grüne Zeiger, die wie ein Krokodilsmaul aussahen. Elvira Tepes hatte ihm die Uhr geliehen. Sie ging auf die Sekunde genau. Vlad Tepes hasste es, sich von der Zeit am Handgelenk fesseln zu lassen, wie er es nannte. »Hoffen wir, dass Ludos Gefühl nicht stimmt. Denn jetzt ist sowieso alles zu spät. Es ist 2:58 Uhr und fünfzig Sekunden. Der Countdown läuft.« Onkel Vlad begann laut zu zählen: »Einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig ...«
»Was haben wir nur vergessen?«
»... vierundfünfzig ...«
»Ludo, hör auf damit!«
»... fünfundfünfzig ...«
»Ich hab's gleich ...«
»... sechsundfünfzig ...«
»Es ist etwas total Einfaches ...«
»... siebenundfünfzig ...«
»Ludo, vergiss es! Die Zeit läuft.«
»... achtundfünfzig ...«
»DIE ZEIT!«
»... neunundfünfzig ...«
»DIE ZEITUMSTELLUNG!«
»... sechzig.«
Vor dem
Höllenloch
J ETZT!«, sagte Silvania. Sie hob den Blick von der Uhr und sah zu ihrer Schwester. Es war genau 2:59 Uhr.
Daka fasste die Germania Dracona fest ins Auge. Ihre Hand umklammerte den Stängel. Eine Sekunde zögerte Daka. Würde alles so laufen, wie Onkel Vlad versprochen hatte? Sie zogen die Pflanze aus dem Boden, packten sie in die luftdichte Box und spazierten wieder vom Friedhof. Ganz einfach. Oder? Warum hatte Daka dann auf einmal so ein Zwicken im Bauch? Daka sah zu ihrer Schwester.
Silvania nickte ihr zu. »Du musst jetzt ziehen!«, flüsterte sie und deutete auf die Germanie Dracona.
Silvania hatte recht. Daka musste jetzt sofort die Pflanze aus dem Boden ziehen, wenn sie den Geist von Osmund Mortus nicht wecken und lebend vom Friedhof kommen wollten. Daka zog. Und ...
Die Pflanze bewegte sich kein Stück.
Daka stellte die luftdichte Box ab. Dann griff sie den Stängel mit beiden Händen. Die Stacheln piekten. Daka zog. Und zog. Und zog. Ihr Gesicht wurde rot. Was äußerst selten vorkam. Sie blähte die Backen auf. Sie hing sich mit ganzer Kraft an den Stängel. Nichts. Keinen Millimeter bewegte sich die Germania Dracona. Von wegen ganz einfach.
»Warte«, sagte Silvania. Sie stellte sich hinter ihre Schwester und umklammerte sie mit beiden Armen am Bauch.
»Onu, zoi, trosch!«, rief Daka. Dann zogen sie gemeinsam. Die spitzen Blätter zerkratzten Dakas Arme. Der Geruch wurde immer unerträglicher. Es kam Daka so vor, als hätte die Germania Dracona in ihrer Angst einen Pups gelassen. Ihr taten jetzt schon die Vampire leid, die mit dem Saft dieser widerspenstigen Pflanze gurgeln mussten.
Beide Mädchen zogen aus Leibeskräften. Wie beim Seilziehen setzten sie ihr ganzes Gewicht ein. Es funktionierte. Erst bewegte sich die Germania Dracona nur ein kleines Stückchen. Doch dann, mit einem – PLOPP! – kam sie plötzlich mit der ganzen Wurzel aus dem Erdboden heraus.
Die Schwestern standen schwer atmend vor der Pflanze und musterten ihren hochgiftigen Fund.
»So eine lange und dicke Wurzel habe ich noch nie gesehen«, sagte Silvania.
Daka hielt sich die Nase zu und beugte sich über die Wurzel. »Die sieht aus wie ein Riesenkrake mit Saugnäpfen.«
»Pack sie bloß schnell in die Box.« Silvania wedelte sich frische Luft zu.
Daka knickte die Pflanze zusammen und stopfte sie in die Box. Sie passte gerade so hinein. Daka hatte einen Moment den Eindruck, die Germania Dracona würde sich in der Box winden wie ein gefangenes Tier.
»Nichts wie weg hier«, flüsterte Silvania.
Daka kniff die Augen zweimal hintereinander zusammen, starrte die Box an und nickte. Ja, es war höchste Zeit, dass sie diesen Friedhof verließen. Daka war es ein Rätsel, warum Helene Friedhofsbesuche als Hobby hatte.
Plötzlich erstarrte Silvania in ihrer Bewegung.
»Was ist?«, fragte Daka leise. »Wieder ein Vogel?«
Silvania blickte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Sie schüttelte sich. »Es ist so ruhig.«
Daka lauschte. »Stimmt. Aber ist das auf einem Friedhof nicht normal?«
»Es ist aber unheimlich ruhig. Verstehst du?«
Daka nickte langsam. »Du meinst: ZU ruhig.«
»Genau. Als hätte jemand den Ton ausgeschaltet.« Silvania sah sich langsam nach allen Seiten um.
Auf einmal überkam Daka ein Frösteln. »Ist dir auch so kalt?« Während sie sprach, bildete sich vor ihrem Mund eine kleine Rauchwolke.
Silvanias Zähne klapperten als Antwort. »W... w...w...wie in
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