Eindeutig Liebe - Roman
Sienna. Ich habe unter der großen Eiche da drüben geschlafen, als so ein paar Jungs auf mich zukamen. Sie lachten mich aus, und dann trat mir einer von ihnen ohne Grund in den Bauch. Sie haben versucht, meinen Rucksack zu klauen, aber darin ist mein Foto – das von Jenny –, und deshalb riss ich mit aller Kraft daran. Ich wusste nicht, wie stark ich bin, bis einer der Jungen hinfiel. Da erst begriff ich, dass es gar keine Jungen waren; sie waren eher neunzehn oder zwanzig. Meine Zähne habe ich alle durch einen einzigen Schlag verloren. Ich habe sie neben dem Baum ausgespuckt. Hast du es jetzt kapiert?« Er atmete schwer.
Ich stellte mir die jungen Männer vor, stellte mir vor, wie sie ihn verhöhnt und beschimpft hatten. So etwas kannte ich aus dem Fernsehen, aus Gewaltfilmen.
»Geh jetzt, Sienna, okay? Ich möchte dich im Moment nicht um mich haben.« Er verstummte und stierte in die Ferne.
Meine Augen waren voller Tränen, und ich fühlte mich, als wäre ich genau das, was er behauptet hatte – ein albernes kleines Mädchen. Ich war wütend. Er hatte keine Ahnung, was ich durchmachte. Ich hatte kein heiles Elternhaus – alles andere als das! »Wir sehen uns«, brachte ich gerade so heraus, zu groß war der Kloß in meiner Kehle. Dann stand ich abrupt auf und ging weg, die Tränen liefen mir die Wangen hinunter.
Ich war stinksauer. Stinksauer darüber, dass Pete so mit mir geredet hatte. Stinksauer auf mich selbst, weil ich mich in Dinge einmischte, die größer waren als ich. Und stinksauer auf die Mistkerle, die ihn so zugerichtet hatten.
Auch ich bin einmal ein Teenager gewesen. Doch meine »Albernheiten« hatten sich darauf beschränkt, einen Fremden dazu zu überreden, mir Apfelwein aus einem Supermarkt mitzubringen, auf einen Wurm zu treten, um zu gucken, ob er sich wirklich in der Mitte teilte, oder Elouise zu fragen, ob sie mir die Ohrläppchen durchstechen konnte – aber ich hatte niemanden verprügelt und ihm die Zähne ausgeschlagen. Ich wischte mir die Tränen ab und versuchte, mich auf dem Weg zurück ins Büro wieder in den Griff zu bekommen. Ich zitterte am ganzen Körper.
Als ich in den Empfangsraum trat, schlug mir die klimatisierte Luft wie eine Wand aus Eis entgegen; sie kitzelte in meinem Rachen. Heute saß nur Sandra dort – in einem grellen, orangefarbenen Shirt – und las das OK! -Magazin. Ihr rosaroter Lippenstift und die goldenen Armreifen erinnerten mich an die Frauen, die man an der Costa del Sol sieht, wie sie im Hotelrestaurant in ihrem Obstsalat herumpicken, im Schlepptau Ehemänner mit behaarter Brust.
»Hallo. Wo warst du denn so lange?«, fragte sie und hob dabei kaum den Blick von den Seiten des Klatschblatts.
»Äh … mit Pete im Park«, antwortete ich in der Hoffnung, dass sie mir nicht allzu viele Fragen stellte. Dann sah ich zur Seite, damit sie mein aufgequollenes Gesicht nicht bemerkte. Sie arbeitet am Empfang, also stellt sie natürlich Fragen. Sie hält es für ihre Aufgabe, alles über jeden zu wissen.
»Wer ist denn Pete, Liebes? Dein neuer Freund?« Neugierig hob sie eine Augenbraue.
»Nein. Der Obdachlose.«
Plötzlich hatte ich ihre ganze Aufmerksamkeit. Das Magazin lag auf dem Tisch. »Ach, du gibst dich doch wohl nicht immer noch mit ihm ab, oder? Ich hatte angenommen, du wärst so schlau, dich von dem Kerl fernzuhalten«, sagte sie und bedachte mich mit einem geringschätzigen Blick, bei dem selbst Dill nur schlecht mithalten konnte.
Diese Reaktion machte mich noch wütender. Schnell drückte ich den Aufzugknopf und hoffte, er würde sich beeilen. Ich wusste, wenn ich noch länger mit ihr spräche, würde ich die Beherrschung verlieren.
»Tut mir leid, Sandra, ich muss …«, murmelte ich ausweichend. Den Rest des Satzes würde sie nie hören; er war es nicht wert, ihn zu beenden. Es machte mir richtig Angst, wie ignorant manche Menschen waren.
Ich wollte die Welt verändern, es mit allem aufnehmen, alles besser machen. Dad sagte immer, das liege an meinem Alter; nach einer Weile gebe man so etwas auf und mache sich nur noch Gedanken darüber, was man zum Abendessen kocht und wie viele Beutel Tee noch im Schrank sind. Diesen Punkt hatte ich jedoch noch nicht erreicht. Ich würde Pete irgendetwas Gutes tun.
Sobald ich an meinem Schreibtisch saß, begann ich online nach Informationen zu suchen. Es gab unglaublich viele: Berichte, behördliche Richtlinien, Finanzierungspläne, Fallstudien, Statistiken … Dabei suchte ich eigentlich nur nach
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