Eindeutig Liebe - Roman
und aus meinem Leben zu verschwinden. Niemand außer Dad kann mich je lange lieben. Und selbst bei ihm ist es ja nicht so, als könnte er mich überhaupt verlassen; ihm bleibt keine andere Wahl, als es mit mir auszuhalten.
Pete stöhnte wieder, dann rülpste er zweimal. Unter seinem T-Shirt zeichneten sich die Rippen ab. Schuldbewusstsein überkam mich, als ich mir vor Augen führte, wie lange er schon obdachlos war und wie wenig Zuwendung ich ihm schenkte, wenn man mal davon absah, dass ich ihm hin und wieder einen Leckerbissen brachte und ihn mit traurigen Geschichten über mein unglaublich kompliziertes Liebesleben langweilte.
»Na ja, genug von mir. Was ist mit dir passiert?«, fragte ich, rollte mich auf den Bauch, damit ich ihn angucken konnte, und warf einen Blick auf seine fehlenden Zähne. Er seufzte wütend, gab mir aber keine Antwort.
»Die Sache ist die, Pete … Ich sage es nur ungern, aber du riechst heute ziemlich stark nach Bier.« Ich sah ihm direkt in die Augen.
Es hatte mich tief beeindruckt, dass er sein Laster offensichtlich aufgegeben hatte. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdachte, war es viel zu glatt gelaufen, um wahr zu sein. Plötzlich hatte ich den Verdacht, er könnte sein Trinken einfach vor mir verborgen und mir bewusst etwas vorgespielt haben. Wir alle brauchen unsere kleinen Laster – Nick raucht manchmal, mein Dad frönt einem ungesunden Interesse für Schokolade, und wenn mir alles zu viel wird, gehe ich oft stundenlang shoppen –, aber wenn für einen Menschen der einzige Trost im Leben der Rausch aus einer Bierdose ist, dürfte es wohl sehr schwer sein, sie einfach in den Müll zu werfen. Am schlimmsten war, dass ich ihn zwar irgendwie verstehen konnte, aber gleichzeitig Angst um ihn hatte. Und ich hatte auch Angst vor meiner eigenen Naivität.
Er senkte beschämt den Kopf und schwieg, aber seine Körpersprache verriet alles.
»Komm her«, forderte ich ihn auf und streckte die Hand vorsichtig nach seinem Kinn aus. Seine Unterlippe sah wund aus. Der Alkoholgestank war kaum auszuhalten. Behutsam zog ich die Lippe hinunter. Er zuckte sichtlich zusammen und schlug meine Hand weg, als wäre sie eine Wespe. Ich sprang zurück. Die Ruhe, die sich zwischen uns eingestellt hatte, war verschwunden, und er sah wieder so wütend aus wie in dem Moment, als ich ihn eingeholt hatte.
»Was ist denn passiert, Pete?« Als ich wieder die Aggression in seinem Gesicht sah, stiegen mir die Tränen in den Augen. Es war so wie damals mit dem Foto …
»Du bist nur ein kleines Mädchen!«, fuhr er mich an und setzte sich abrupt auf. Dann stemmte er die Ellbogen auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. »Was weißt du denn schon von Schwierigkeiten, hä? Du mit deinen schicken Klamotten und deinem guten Job und deinem heilen Elternhaus!« Vor Wut schob er den Unterkiefer vor.
Seine Worte verletzten mich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich eine Weile. »Hat dich … hat dich jemand verprügelt, Pete?«, fragte ich schließlich.
Er drehte den Kopf wieder zu mir. Der Zorn stand ihm ins Gesicht geschrieben, und er blinzelte heftig – ein unter anderen Umständen ganz lustiger Tick, den er im Laufe des vergangenen Jahres entwickelt hatte. Ich sah mir seine Lippe genauer an; sie war dunkelviolett.
»Na klar haben die mich verprügelt, Sienna, verdammte Scheiße. Oder glaubst du etwa, ich wäre gegen einen Baum gelaufen?«, platzte es aus ihm heraus.
Ich wich etwas zurück, und auf einmal hatte ich einen riesigen Kloß in der Kehle. Mir brach der Schweiß aus. Sein Blick bohrte sich in meine Augen. Ich sah seinen Zorn aufflackern wie eine Flamme und bekam auf einmal furchtbare Angst.
»Und ja, Sienna, ich bin besoffen. Gestern haben sie mir die Scheiße aus dem Leib geprügelt, und heute hab ich mir so viel Bier besorgt, wie ich nur kriegen konnte, und hab alles getrunken, okay? Bist du jetzt glücklich?« Er rotzte ins Gras, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen.
»Na ja, nein, ich bin nicht glücklich, Pete, ich bin wirklich …«
Doch er unterbrach mich wieder. »Ein albernes kleines Mädchen wie du kann die Welt nicht verändern, also hör endlich auf, es dauernd zu versuchen, ja?«
Das war mehr, als ich ertragen konnte. »Sag mir einfach, was passiert ist, dann gehe ich«, entgegnete ich. Meine Stimme zitterte.
»Du möchtest wissen, was passiert ist? Du willst was über die echte Welt hören? Okay, es geht los, aber ich hoffe, du kommst damit zurecht,
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