Eindeutig Liebe - Roman
seiner unerklärlichen Krankheit.
Die Auseinandersetzungen waren furchtbar. Ich zitterte in meinem Bett, wenn ich hörte, wie Mum Teller zerschmiss und Dad anschrie, er sei der »faulste und erbärmlichste Typ«, den sie je und »zu ihrem Unglück« kennengelernt habe. Diese Worte werde ich nie vergessen, denn obwohl ich erst neun war, wusste ich, dass die Lage ernst war.
Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter ihre geschwollenen Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verbarg, wenn sie mich zur Schule fuhr, und daran, wie ständig eine rot glänzende Nase unter ihrem kastanienbraunen Haar hervorguckte. Wenn sie vor dem Lenkrad saß, waren ihre Schultern immer verspannt und krumm. Das ist meine deutlichste Erinnerung an ihr Aussehen. Glücklich war sie nicht.
Der Großteil meiner Erinnerungen an die Zeit davor sind mehr oder weniger verschwommen, als wäre ich wütend auf Mum gewesen und hätte sie deshalb einfach beiseitegewischt. Mum hatte außerdem die Angewohnheit, sich vor Wut in die Unterlippe zu beißen, bis sie blutete. »Das ist nur Herpes, Liebling«, sagte sie dann immer – noch so eine Lüge, mit der sie die Wahrheit übertünchte.
Als ich zehn war, konnte Dad bereits nicht mehr lachen oder weinen, ohne in tiefen Schlaf zu sinken, egal ob am Boden, auf dem Sofa – oder auf dem Bürgersteig. Endlich dämmerte es allen, dass etwas ernsthaft nicht in Ordnung war. Ärzte musterten ihn durch ihre Drahtgestellbrillen, Neurologen machten sich bedeutungslose Notizen, und sein Fall wurde von einem Spezialisten zum anderen weitergereicht. Zu einer Diagnose kam keiner.
Dad verbrachte viel Zeit in Apparaten, die sein Gehirn scannten, oder angeschlossen an ein Gewirr von Kabeln, aber auch die eingehendste Auswertung der Kurven und Tabellen ergab nichts anderes, als dass das Rätsel unlösbar war. Narkolepsie war zwar damals schon bekannt, aber eben nicht sehr verbreitet, und viele Mediziner hatten noch nie davon gehört. Die Spannungen zwischen Mum und Dad wurden immer schlimmer. Am Ende küssten und umarmten sie einander nicht einmal mehr, und wir unternahmen nichts mehr gemeinsam als Familie. Das Hochzeitsfoto stand umgedreht auf dem Kaminsims. Mir versicherten sie immer wieder, dass alles gut werde, aber ich wusste, dass die Familie zerfiel und bald ins Meer stürzen würde wie ein kleines verlassenes Häuschen am Rand einer zerbröckelnden Klippe.
Wahrscheinlich ist es nicht besonders überraschend, dass Dad ein unnatürlich starkes Interesse an Dokumentarsendungen entwickelte; er zeichnete alles Mögliche auf und sah es sich immer wieder an. Damals fing es an, dass die Außenwelt ihn über Gebühr faszinierte, was dazu führte, dass er Hunderte von Notizbüchern vollschrieb, um zu erhalten, was er erfahren hatte, sollte sein Gedächtnis eines Tages nachlassen.
Er führte sie, seit er richtig krank geworden war. In seinem Zimmer standen Kisten mit diesen Notizbüchern, von denen jedes etikettiert und nach Datum eingeordnet war. Ich kaufte sie ihm, damit er seine Träume und die Visionen aufschreiben konnte, die mit der Kataplexie einhergingen. Er sollte seine Enttäuschungen und Ängste festhalten.
An einem regnerischen Sonntagnachmittag machte Dad seine große Entdeckung. Er erzählte mir alles darüber, als ich ein wenig älter war: Im Fernsehen wurde eine amerikanische Dokumentation mit dem Titel Schlafend wach gesendet. Dad hatte den Eintrag im Programmheft mit einem dicken roten Filzstift umkringelt und dann noch zweimal unterstrichen. Er hatte sogar einen Wecker gestellt, damit er es nicht vergaß, den Videorekorder programmiert und eine neue Kassette eingelegt.
Die Dokumentation begann mit dem Bild eines blühenden grünen Feldes im Sonnenschein, was ein wenig an den Vorspann von Unsere kleine Farm erinnerte. Ein kleines flauschiges Lämmlein kam auf diesen natürlichen Spielplatz gesprungen, und – paff! – plötzlich fiel das Tierchen zu Boden, als wäre es gestorben. Dad sagte, es sei so komisch gewesen, dass ihm fast die Tränen gekommen wären, aber gleichzeitig herzzerreißend traurig. Bald schon sprang das Lämmchen wieder auf, aber es dauerte nicht lange, und es lag wieder am Boden, vier kleine Hufe zuckend in die Luft gestreckt.
Dad saß allein vor dem Fernseher; ich war bei einer Freundin, und Mum tratschte bei einer Flasche Wein mit einer Nachbarin. Je mehr er von der Sendung sah, desto mehr zitterten seine Hände angesichts der Übelkeit erregenden Vertrautheit dessen, was er da
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