Eindeutig Liebe - Roman
rechten Auge und lief mir über die Lippen, doch ich fühlte mich wie betäubt. Ich leckte sie ab und schmeckte den vertraut salzigen Geschmack. Was für ein Schlamassel! Was für ein verdammter Schlamassel!
Ich musste an meine Mutter denken, überlegte, was sie wohl sagen würde, wenn sie da wäre. Aber ich konnte es mir nicht einmal vorstellen. Ich wusste weder, wo sie war, noch, wie sie auf meine Situation reagieren würde.
Meine Mutter, Kim Walker, war Rechtsanwaltsgehilfin und hatte die ganze Familie schockiert, indem sie Dad verließ, nachdem festgestellt worden war, dass er unter Narkolepsie litt. Ich war damals noch ein Kind und blieb mit Dad allein zurück. Seither zermarterte ich mir den Kopf darüber, wie sie es übers Herz gebracht hatte, uns einfach so im Stich zu lassen.
Erst kürzlich habe ich festgestellt, dass ich deswegen nicht nur eine irrsinnige Wut mit mir herumschleppe, sondern auch einen Komplex: Ich frage mich ständig, ob ich vielleicht nicht liebenswert bin. Heute kann ich bei Nachbarn und den Kindern älterer Freundinnen beobachten, wie Babys sich in kleine Mädchen verwandeln und kleine Mädchen in Teenager, und ich zermartere mir das Hirn darüber, wie sie es wohl geschafft hat, wegzugehen, obwohl sie mich von Geburt an kannte. War ich ein schwieriges Kind? Selbstsüchtig? Es kann jedenfalls nicht nur an Dads Krankheit gelegen haben – andere Familien überstehen solche Krisen ja auch. Weil sonst nichts blieb, habe ich also immer angenommen, dass es etwas mit mir zu tun hatte …
Ich kann es ihr wohl kaum verübeln, dass Dads Krankheit sie völlig frustriert hat. Mir ist es manchmal auch so gegangen … Und dieses Eingeständnis bereitet mir immer Schuldgefühle.
Sehen Sie, als sie einander kennengelernt haben, war er noch nicht so. Damals war er ein großer schlanker Mann mit vollem braunen Haar, funkelnden braunen Augen und einem strahlenden Lächeln. Ich weiß von Fotos, wie er damals aussah; er hatte eine irgendwie kecke Ausstrahlung. Doch heute erkennt man kaum noch eine Ähnlichkeit zu dem Mann von damals, nur das Lächeln ist gleich geblieben.
Irgendwann wurde alles ein wenig seltsam: Dad döste plötzlich in den Gängen des Einkaufszentrums ein, saß schlafend auf Supermarkttoiletten und fühlte sich allgemein zu müde für alles. Von dem zupackenden jungen Mann, den meine Mutter auf einem Rockfestival kennengelernt hatte – ausstaffiert mit einem Strohhut und grünen Gummistiefeln! –, trennten ihn Welten.
Zuerst schob es jeder auf Trägheit. Obwohl ich erst fünf Jahre alt war, merkte ich, dass mit meinem Dad etwas nicht stimmte. Die anderen Väter waren aktiv und ehrgeizig, doch meiner versank in einem Loch. Im Frühstadium seiner Krankheit stritten wir alle ab, dass ihm etwas Ernsthaftes fehlte. Uns fiel zwar auf, dass er sein Leben nicht mehr im Griff hatte, aber wir schoben es einfach auf eine Phase der Erschöpfung, die aus irgendwelchen Gründen nicht vorbeiging.
Doch rückblickend hatte es genug Warnzeichen gegeben. Er hat mir einmal erzählt, dass er als Siebenjähriger auf dem Schulhof ohnmächtig geworden sei, als er Fangen spielte. Außerdem sei er in den Vorlesungen an der Universität regelmäßig eingeschlafen und habe morgens oftmals weitergeschlafen, obwohl neben ihm der Wecker schrillte.
Trotzdem behandelten es alle als eine Art Macke. Schließlich mussten sich viele junge Männer jeden Morgen aus dem Bett kämpfen, und auch die Ohnmacht konnte eine ganze Reihe von Ursachen haben. Vielleicht brauche er Urlaub, überlegten wir oft. Oder eine Umstellung der Ernährung, vielleicht auch ein neues Bett? Sogar eine Depression wurde als Ursache in Betracht gezogen. Man hörte von Menschen, die tagelang im Bett blieben und hofften, sie würden aufwachen und feststellen, dass der schwarze Hund in der Zimmerecke nicht mehr da war.
Doch nach zahllosen Besuchen bei Ernährungsberatern, Naturheilkundlern und sogar Spiritisten war jeder ratlos – jeder außer meiner Mutter, die glaubte, er versuche sich vor der Verantwortung für sein Leben zu drücken. Eine Krankheit, bei der man ohne ersichtlichen Grund einschlief? Na, von wegen!
Hunderte verschiedene Vitaminpräparate und andere Nahrungsergänzungsmittel blieben ohne Wirkung, und nach nur vier Jahren war er nicht mehr in der Lage, in der modernen Welt zu funktionieren. Die Spirale führte schnell abwärts, und ich wuchs damit auf. Meine ersten richtigen Erinnerungen an meinen Vater sind überschattet von
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