Eindeutig Liebe - Roman
wachte um acht Uhr morgens auf, und das war schon einmal ein guter Anfang. Ich lebte. Es war ein hübscher, sonniger Herbsttag. Ich öffnete das Fenster, um Luft hereinzulassen; sie war frisch, und das gefiel mir. Ein Eichhörnchen sprang anmutig auf einen Ast, der fast in Greifweite meines Fensters hing, dann huschte es die dicke raue Borke hinunter. Unten auf der Straße führte ein älterer Mann seinen Hund aus, ein breites Grinsen im Gesicht.
Chloe lag nicht in meinem Bett. Ich hatte sie nach gründlicher Überlegung nach Hause geschickt – nur für den Fall, dass ich eine Panikattacke bekam und in eine Papiertüte atmen musste.
Meine erste große Beobachtung bestand darin, dass all meine Gliedmaßen großartig arbeiteten. Ich empfand auch keinen plötzlichen Drang, meinen Geräteschuppen in eine Schreinerwerkstatt umzuwandeln oder die Vögel, die ich im Garten sah, in einer Tabelle zu protokollieren. So weit, so gut.
Mein erster Weg war der ins Bad. Meine Gelenke knirschten nicht; alle Bewegungen waren so flüssig wie immer. Ich trat vorsichtig auf den Spiegel zu und betrachtete mein Spiegelbild. Puh. Gott sei Dank hatte ich mich nicht in meinen Vater verwandelt, so wunderbar er auch war. Ich hatte genau dieselben vier grauen Haare wie gestern und keine zusätzlichen Fältchen um die Augen.
Alles lief wunderbar.
Mein Handy klingelte, also raste ich ins Schlafzimmer zurück, um ranzugehen, und stieß mir dabei den Zeh an einem Bücherkarton. Leider war ich nach wie vor ungeschickt. Mir trat das Wasser in die Augen.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Hübscher«, schnurrte Chloe. Sofort erschienen Bilder von ihr in Reizwäsche vor meinem inneren Auge. Das war hübsch. Ich bereute auf der Stelle, dass ich sie gestern Abend nach Hause geschickt hatte. Andernfalls hätte ich jetzt den ersten Sex meines Erwachsenenlebens genießen können. Vielleicht wäre ich ja endlich gut …
»Morgen, Spatz. Wie geht es dir heute, Schönheit?«, fragte ich, ließ mich aufs Bett sinken und kroch wieder unter die Decke.
Ich hatte mir für diesen Tag extra Urlaub genommen. Normalerweise tat ich das an meinem Geburtstag nicht, aber ich hatte wirklich gefürchtet, einen kleinen Nervenzusammenbruch zu bekommen, und das musste nicht unbedingt im dritten Stock eines Bürogebäudes in Balham passieren. Das ist ziemlich hoch oben. Ich fand, ich sollte allein damit fertig werden – Sie wissen schon, dieses Zeug von wegen »die Reise genießen«. Aber tatsächlich hatte ich die letzte Woche als Neunundzwanzigjähriger im Zustand akuter Unruhe verbracht. War ich zügellos genug gewesen? War ich zu zügellos gewesen? Hätte ich irgendetwas lieber anders machen sollen? Inwieweit war ich ein selbstsüchtiger Mistkerl gewesen?
»Na, mir geht es gut. Danke, Nick.« Chloes Stimme unterbrach meinen Gedankengang. »Ich komme heute Abend vorbei und bringe dir deine Geburtstagsüberraschung – ist das okay?« Sie senkte die Stimme. Sehr zu meiner Überraschung konnte man das sowohl als drohend als auch als sexy auffassen. Ich hoffte, es bedeutete Letzteres.
Eigentlich wollte ich überhaupt nicht, dass sich jemand Umstände machte. Ich wollte nur den Tag hinter mich bringen und damit anfangen, mir darüber Gedanken zu machen, dass ich auf die vierzig zuging. Es würde eine Aufgabe sein, die die nächsten zehn Jahre betraf, und dafür brauchte ich alle nervliche Energie, die ich auftreiben konnte.
»Okay, das klingt toll. Ich kann es kaum erwarten«, entgegnete ich. Dann legte ich auf und zog mir die weiche Bettdecke unter die Nase. Sie roch nach Chloe. Köstlich.
Also, was sollte ich mit mir anfangen? Ich hätte gern Sienna getroffen. Um genau zu sein, war ich deswegen etwas nervös. Ich wollte zwar, dass mein dreißigster Geburtstag als einer der unauffälligsten und ereignislosesten Tage der Menschheitsgeschichte in die Annalen einging, doch wenn Sienna nicht daran teilnehmen würde, wäre ich schon verletzt. Die Distanz war zwar gut und schön, aber heute wollte ich sie um mich haben. Doch sie hatte nichts mit mir vereinbart. Gar nichts. Seit Wochen hatten wir uns praktisch nur auf der Arbeit gesehen.
Da klopfte es an der Tür. Ich fragte mich, wer um alles in der Welt das sein könnte, sprang aus dem Bett, zog mir meinen dicken blauen Morgenmantel über und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Durch das Glas hindurch sah ich den verschwommenen Umriss eines Paketboten – ich erkannte ihn an der leuchtend roten Jacke mit dem gelben
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