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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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sehen, eine Folklore, bei der selbst die Kritik daran wieder nur Folklore war. Ich empfand alles als Affront, eine Art von Verhöhnung und Selbstverhöhnung, wie sie zur Regel geworden war, wenn eine solche Darstellung einer ehemals angeblich heilen Welt auch nur versucht wurde, und wollte gehen, als ich ein Bild entdeckte, das mich mit allem versöhnte. Zuerst hatte ich es gar nicht beachtet, weil das Mädchen im Vordergrund mit seinen Zöpfen und dem zahnlückigen Lachen nur ins Schema passte, aber jetzt erkannte ich im Hintergrund die Au und beim zweiten und dritten Hinschauen ganz klein den dort in den Wiesen und in Wirklichkeit riesigen notgelandeten Bomber. Es hätte meine Mutter sein können, aber es war nicht meine Mutter, vielleicht eine Freundin von ihr, vielleicht eine Unbekannte, gar nicht aus dem Dorf, und ich nahm mir vor, das herauszufinden. Ich sah der Kleinen ins Gesicht, und ob ich das idealisiere oder nicht, auf einmal änderte sich für mich alles, auf einmal waren ihre strahlenden Augen in dem ganzen Schwindel nicht mehr die strahlenden Augen des Heimatfilms, sondern sie spiegelten das Glück wider über die wie Engel vom Himmel herabgekommenen Amerikaner und die Wohltaten, die sie bringen würden.
    Es war eine Stimmung, in der ich sonst auf den Friedhof gegangen wäre, um meine Großeltern und all die anderen nicht Ausgewanderten zu besuchen, die brav und demütig und buchstäblich im Schweiße ihres Angesichts ihr Leben gelebt hatten, bis der Tod sie wie als Hohn auf ihre Träume vom Weggehen und Fortkommen an Ort und Stelle ereilt hatte, aber ich ging nicht hin. Ich blieb an der Kreuzung stehen, an der mein Großvater ums Leben gekommen war, und dachte den gleichen Gedanken wie immer, wie er es geschafft hatte, dort in den fünfziger Jahren unter ein Motorrad zu geraten, sechs Jahre vor meiner Geburt, wenn selbst jetzt noch manchmal minutenlang kein Auto vorbeifuhr. Darüber wurde in meiner Familie nicht gesprochen, und das hatte sich noch verschärft, seit mein Onkel ins Wasser gegangen war, um zum vollkommenen Tabu zu werden, nachdem Robert sich den Lauf des Gewehrs in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte. Es ergibt ein annähernd gleichseitiges Dreieck, wenn man zu den beiden Stellen, an denen Robert und mein Großvater gestorben sind, die Stelle dazunimmt, an der mein Onkel zum letzten Mal lebend gesehen wurde, ein gleichseitiges Dreieck mit Seiten von nur wenigen Kilometern Länge, und innerhalb seiner Begrenzung liegt mein Haus am Fluss, liegen die Wiesen in der Au, die einmal meiner Familie gehört haben und in denen der amerikanische Bomber notgelandet war, und liegt im Grunde das ganze Stück Erde, auf dem sich, abgesehen von ein paar einzelnen Ausreißern, die draußen in der Welt glücklich oder unglücklich geworden sind, das Leben meiner Leute mütterlicherseits seit Generationen abgespielt hat. Mir ist nicht klar, warum ich mit einer solchen Intensität daran dachte, während ich an der Kreuzung verharrte, keine zweihundert Meter vom Dorf, und über die Felder schaute, und warum ich auf einmal dachte, was ich sonst nie gedacht hatte, dass ich hierhergehörte, und mich gleichzeitig mit aller Macht gegen den Gedanken wehrte. Dann richtete ich meinen Blick auf den freistehenden Berg in der Ferne und sagte mir, dass es vielleicht schon reichen würde, wenn die Erde sich unter dem Himmel wegdrehte und der Himmel über diesem Stück Erde irgendwann vielleicht nicht gerade der Himmel über New York wäre, nicht der Himmel über Rio de Janeiro, aber immerhin der Himmel über einer Siedlung in Brasilien, die aus der Zeit gefallen war und in der meine Großeltern lebten, und wenn es im tiefsten Urwald wäre. Ich hatte mich am Straßenrand hingesetzt und blieb eine Weile sitzen, und als ich schließlich aufstand und zu meinem Auto ging, lag eine erwartungsvolle Stille über dem Land, und es dämmerte schon.

6
    Die Zeit danach könnte ich je nach meiner Stimmung so oder so beschreiben. Einerseits hatte ich den Eindruck, die Aufregung in der Stadt lege sich nach der zweiten Bombendrohung ebenso schnell, wie sie sich nach der ersten gelegt hatte, andererseits übersah ich die Anzeichen nicht, dass die Anspannung, die am Sonntag im Bruckner für mich geradezu greifbar gewesen war, weiter aufrecht blieb. Allerdings war ich ein schlechter Gewährsmann für die Wirklichkeit, weil ich mich nur auf wenige Beobachtungen stützen konnte. Ich fand, Herr Frischmann mache es sich in seinem

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