Eine Ahnung vom Anfang
Wort darüber zu verlieren. Er ist ein harmloser Träumer. Lass ihm doch sein romantisches Verhältnis zu sich selbst.«
»Das kann er gern haben. Aber wenn ich dir sage, ich möchte glücklich werden, hört sich das naiv an, nur weil solche Hitzköpfe wie er lieber alles in die Luft sprengen würden, als sich einzugestehen, dass sie gescheitert sind. Diese ganze Weltverneinung macht mich krank.«
»Ich weiß nicht, warum du dich überhaupt zu ihm in Beziehung setzt«, sagte ich. »Du bist eine junge Frau, er ist ein alter Mann, und damit hat es sich doch.«
Ich war so sicher gewesen, Judith werde sich nicht unterkriegen lassen, aber keine drei Jahre nach diesem Austausch im Auto, bei dem sie am Ende gesagt hatte, sie wisse tatsächlich nicht, was sie später machen solle, außer dass sie wegwolle aus der Stadt, schob sie den Kinderwagen durch die Straßen. An ihrer Seite war der ominöse Freund, an dem sich schon Daniel und Christoph die Zähne ausgebissen hatten, gewiss ein netter Junge, ein wenig blass vielleicht in seiner ganzen Erscheinung, aber ich vermochte mich nicht gegen den Gedanken zu wehren, dass er sie zur Strecke gebracht hatte. Er flachste nur unbehaglich herum, und sie hielt sich tapfer, wenn man das so sagen kann, auch wenn ich den Eindruck nicht los wurde, sie weiche mir aus oder sehe jedenfalls zu, dass über die ersten Begrüßungsfloskeln hinaus kein Gespräch zwischen uns zustande kam. Ich sah sie ein- oder zweimal auf dem Fußballplatz, wo sie mit ihm kurz vor Anpfiff die Zuschauertribüne abschritt, als wollte sie gesehen werden und dem Tratsch wegen ihres Kindes Einhalt gebieten, der da schon um sich zu greifen begann. Dann hörte ich nur mehr ab und zu von ihr, und als sie an unsere Schule zurückkam, um zu unterrichten, hatte sie sich längst eingereiht in die Galerie der ehemaligen Schüler, deren Bilder in meiner Erinnerung langsam verblassten.
Der Besuch bei ihr hatte mich so aufgewühlt, dass ich spazierenging, um in Ruhe zu überlegen. Ich stand schon vor dem Bruckner, als ich mich entschloss, doch nicht einzutreten, und wusste plötzlich, dass ich meine Fahrt an den Fluss hinaus nicht länger aufschieben durfte. Wie so oft ließ ich keinen Umweg aus, als könnte ich Zeit gewinnen, und machte nur deshalb nicht an der Raststätte halt, weil ich mir vornahm, dort erst nachher einzukehren. Ich hatte den Eindruck, ein Auto folge mir, aber sobald ich dem auf den Grund ging und in eine Ausweiche einbog, um es vorbeizulassen, stellte sich meine Befürchtung als Hirngespinst heraus. Auch als ich beim Haus ankam, wurden meine Erwartungen enttäuscht. Es war offensichtlich jemand dagewesen, der sich umgeschaut hatte, wie ich an dem zertrampelten Gras auf dem Grundstück und einem Fetzen Zeitung vom vergangenen Wochenende erkannte, aber selbst das Vorhängeschloss schien intakt, von einer Polizeiabsperrung, wie ich sie mir schon vorgestellt hatte, erst gar nicht zu reden. Trotzdem hielt ich mich eine Weile auf dem Gelände auf und ging sogar zum Wasser hinunter, wo ich eine leere Zigarettenpackung entdeckte, aber wenn ich dachte, es könne sich noch wer in der Nähe herumtreiben, täuschte ich mich. Auf mein Rufen meldete sich jedenfalls keiner, und als ich schließlich zum Haus zurückschlenderte und die Tür aufschloss, sah ich auf den ersten Blick, dass niemand es seit meinem letzten Besuch betreten hatte. Es war alles wie damals, und ich blieb einen Augenblick an der Schwelle stehen, bevor ich mich an den Tisch setzte, an dem ich immer mit Daniel und Christoph Karten gespielt hatte, wenn ein Regenguss über uns hereingebrochen war. Ich fand eine Flasche Wein, die noch von unserem Sommer stammte, und öffnete sie, trank jedoch nicht. Über meine Gefühle musste ich mir erst klarwerden, aber es wäre eine Lüge, wenn ich nicht zugeben würde, dass sich in die Erleichterung, die ich empfand, auch eine Spur Enttäuschung mischte.
Ich weiß nicht, ob es damit zu tun hatte, aber auf der Rückfahrt nahm ich mir Zeit, in der Raststätte eine Ausstellung mit Fotos aus der Gegend anzusehen, die es dort an der Treppe zur Toilette hinunter gab. Es waren lauter ländliche Idyllen aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, die Anklage und Verlustanzeige sein sollten, aber weder das eine noch das andere waren, sondern nur eine weitere Lüge in Schwarzweiß. Obwohl ich mir längst schon keine Gedanken mehr darüber machte, schmerzte es mich dieses Mal doch wieder, die ausweglose Folklore zu
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