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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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mit dieser Masche käme, aber um sie bräuchte ich mich nicht zu sorgen. Ich sah sie an, als würde ich sie nicht verstehen, und ich weiß noch, wie sie zögerte und es halb als Witz zu tarnen versuchte, als sie fortfuhr, es sei doch bekannt, dass ich am liebsten keinen von meinen Schülern je aus der Schule hinauslassen würde, weil ich Angst um sie hätte.
    »Bevor ich sonst etwas mache, werde ich mir die Welt anschauen«, sagte sie. »Ich möchte ein Jahr lang reisen und dann weitersehen und mich von nichts und niemandem festlegen lassen.«
    Es war an einem der Abende, an denen ich sie und die beiden Jungen noch nach Hause gefahren hatte, und nachdem Daniel und Christoph ausgestiegen waren, saß ich allein mit ihr im Auto. Wir hatten an dem Tag einen Schriftsteller zu den Proben eingeladen gehabt, von dem es hieß, er sei Camus in den fünfziger Jahren in Paris begegnet. Es war eine mühsame Veranstaltung geworden, weil der alte Herr mit jedem Satz nur den Eindruck verstärkt hatte, er habe in seinem Leben so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte, und versuche jetzt, es mit noch mehr Falschem aus der Welt zu schaffen, indem er sich mühsam an den Geschichtchen seiner eigenen Größe festhielt, die er sich über sich selbst erzählte und die ihn mit dem Erzählen nur immer kleiner machten. Man hätte ihn am liebsten davor bewahrt, und etwas von der Traurigkeit, die er ausgestrahlt hatte, lag noch in der Luft. Das Sympathischste an ihm war, dass alles, was er über Camus zu sagen wusste, sich darauf beschränkte, dass er ihn einmal mit einer Frau die Straße queren gesehen habe und ihn im selben Augenblick nicht um seine Bücher, sondern um die Frau, seine Berühmtheit, den teuren Anzug und die Lässigkeit beneidet habe, mit der er in einem Hauseingang stehengeblieben sei, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ansonsten konnte er den beiden Jungen und Judith wenig vormachen, und wenn Daniel und Christoph sich gerade noch im Auto über ihn und seine Bedeutungshuberei erheitert hatten, war jetzt sie es, die ihn in seiner ganzen Pomphaftigkeit imitierte.
    »Hast du gehört, wie er gesagt hat, wenn er nicht Schriftsteller geworden wäre, hätte er sich entweder mit dem ersten klaren Gedanken am nächsten Baum aufgeknüpft, oder er hätte ohne Zweifel als Verbrecher oder Terrorist geendet?«
    Es war vor der Jahrtausendwende, und da konnte man solche Sätze noch äußern, ohne zu erröten oder vor Scham im Boden zu versinken, oder jedenfalls gab es Schriftsteller, vielleicht nicht die klügsten, die damit kokettierten, aber sie wollte nichts davon hören. Sie war von Anfang an dagegen, dass wir uns in der Theatergruppe für Die Gerechten entschieden, vermochte sich aber nicht durchzusetzen. Sie sagte, ihr sei alles andere lieber, Ein Sommernachtstraum , Das Wintermärchen , irgend etwas Leichtes, aber nicht dieses schreckliche Stück über eine Gruppe von Terroristen in einer finsteren Zeit, das nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun habe. Sie mochte Camus, aber sie mochte ihn auf andere Weise, und auch wenn es beim ersten Hören vielleicht oberflächlich klang, traf sie etwas mit ihrem Urteil, im Streit zwischen Camus und Sartre müsse man sich nur Fotos von ihnen ansehen, um zu wissen, dass Camus recht gehabt habe, oder um sich zumindest genau das zu wünschen. Sie hörte sich gelangweilt meine Ausführungen über die historischen Hintergründe des Stücks an, ertrug genauso gelangweilt Christophs Vortrag über den Tyrannenmord, den ich ihm aufgegeben hatte, und war in ihrer Rolle trotzdem weit glaubwürdiger als Daniel und er. Ich jedenfalls hätte ihr als einziger zugetraut, dass sie eine Bombe werfen würde, so viel Furor entfachte sie in ihrer Figur, während bei den beiden Jungen das Papier Papier blieb und ihre Ernsthaftigkeit das genaue Gegenteil bewirkte, sie oft unfreiwillig komisch machte, ihr Spiel zum Spiel von Kindern, bei dem am Ende alles folgenlos war und die Toten auf Kommando wieder aufstehen würden. Deshalb verstand ich auch ihre Empörung über die vielleicht ein bisschen allzu leicht hingesagten Worte des Schriftstellers und wunderte mich nicht, dass sie sich über ihn aufregte.
    »Da macht es sich einer doch zu einfach«, sagte sie. »Verbrecher oder Terrorist. Dann hätte er sich wirklich besser am nächsten Baum aufgeknüpft, und es wäre nicht schade gewesen um ihn. Mir ist das unheimlich.«
    »Alles dummes Gerede. So durchschaubar, dass es sich gar nicht lohnt, auch nur ein

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