Eine Ahnung vom Anfang
beinahe ein Verfahren am Hals gehabt, weil er in einer Klasse so weit gegangen war, zu sagen, man müsse diese verwöhnten Kinder grundsätzlich ein Jahr in die Verbannung schicken oder bei Brot und Wasser einsperren, bevor man sie auf die Welt loslasse, einer von den Ausfällen, wie die Generation von Dr. Prager noch glaubte sie sich leisten zu können. Deshalb brauchte ich auch nicht viel, um ihn auf meine Seite zu ziehen. Es genügte, ihm zu erzählen, wie Herr Oswald in meiner Sprechstunde aufgetreten war und mich abwechselnd zu umschmeicheln und einzuschüchtern versucht hatte, bis ich nicht mehr wusste, ob er mir am Ende Geld anbieten oder mich nur anherrschen würde wie ein zur Gewalttätigkeit neigender Patron seinen Leibeigenen, den eine solche Halsstarrigkeit um Kopf und Kragen bringen konnte.
Es war für mich zu einer Art Präzedenzfall geworden, weil er immer wieder sagte, seine Tochter verliere nur wegen ihrer schlechten Note in Deutsch ein Jahr, sie müsse nur deswegen die Klasse wiederholen, und ich jedesmal dachte, was er sich erlaube und was er schon wisse von einem Jahr verlieren und wie viele Jahre Robert zu der Zeit bereits verloren hatte, weil er genauso viele Jahre schon tot war. Ich sah ihn ungläubig an, aber er merkte gar nicht, was für eine Geringschätzung in seinen Klagen zum Ausdruck kam. Er war einer von diesen Dialektsprechern, die den Dialekt sprachen, wie andere ihre aufgepumpten Geländewagen fuhren, raumverdrängend und brutal, was in seiner Position ohne Zweifel volksnah hieß, und dass ausgerechnet einer wie er sich herausnahm, Deutsch für nicht weiter wichtig zu halten, musste mich gegen ihn aufbringen. Indes ließ ich ihn reden und machte mir meine eigenen Gedanken. Ich hatte kein gutes Bild von der besseren Gesellschaft unserer kleinen Stadt, zu deren Privilegien ein grobes Auftreten und schlechte Manieren gehörten und die ihr ostentatives Hinterwäldlergetue für eine Tugend hielt, und er war da keine Ausnahme. Zwar hätte ich ihn am liebsten in seine Schranken gewiesen, aber ich beschwichtigte ihn, noch einmal nachdenken zu wollen, und als ich später zum Direktor gerufen wurde, musste ich einerseits lachen, war andererseits in meiner Entscheidung aber längst sicher, als er mich fragte, ob ich nicht ein Auge zudrücken könne. Er gab zu bedenken, es diene auch dem Wohl der Schule, und maßregelte mich, es gehe nicht um Prinzipien, und wenn ich glaubte, der Tochter des Bürgermeisters das Leben schwerzumachen, sei so etwas wie ein revolutionärer Akt und der Anfang vom Umsturz, handle es sich um ein großes Missverständnis, das nur zeige, wie wenig ich von der Welt begriffen hätte.
Ich war schon öfter an dem Tor vorbeigekommen, ohne dass ich je klingelte, und auch jetzt kostete es mich Überwindung, und ich wäre fast umgekehrt, als ich durch die Gegensprechanlage Manons Stimme hörte, die mich einzutreten bat. Das Schiebegitter öffnete sich lautlos, und ich ging über den gekiesten Weg auf die zwei Häuser zu, die Oswaldsche Villa, von außen ein schmuckloser Zweckbau, und das alte Haus unmittelbar daneben, in dem Christoph und Manon wohnten. Es war ein riesiges Anwesen, ein parkähnlicher Garten mitten in der Stadt, von einer mannshohen Mauer umgeben, mit Seerosenteich, Pavillon und einem aufgelassenen Schwimmbad, und während der Verkehrslärm von einem Augenblick auf den anderen wie weggeschaltet war, konnte ich meine Schritte auf dem Kies immer lauter hören. Die beiden Gebäude standen auf einer kleinen Anhöhe, mit einem Blick über die Mauer hinweg, und ich nahm nicht den direkten Weg hinauf, eine breite Treppe, die nach ein paar Stufen jeweils abgesetzt war, sondern wählte die bombastisch angelegten Serpentinen, regelrechte Unendlichkeitsschleifen, als hoffte ich, dass sie sich als Eingang zu einem Labyrinth erweisen würden, in dem ich unentdeckt verschwinden könnte.
Ich hatte Manon seit der Schulzeit nicht mehr gesehen und war unsicher, wie sie bei meinem Anblick reagieren würde. Sie war ein unscheinbares, zur Dicklichkeit neigendes Mädchen mit einem grotesken Herkunftsdünkel und allen Attitüden einer Kleinstadtschönheit gewesen, verträumt, eine Erich-Fried-Leserin, die selbstgedrehte Zigaretten rauchte, um sich beim Rauchen und Verträumtsein zusehen zu können, und es fiel mir schwer, sie mit der Frau zusammenzubringen, die mich vor dem Eingang des Hauses empfing und in einen der Korbsessel plazierte, die dort um einen wuchtigen Holztisch
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