Eine Ahnung vom Anfang
letzten Stunden betreten hatte. Er konnte aus der Altstadt hinaus und war auf dem Weg zum Ölberg, hier das Grab von Maria, da der Garten Gethsemane, dort das Grab von Absalom, die Gräber der Propheten, nur ein paar Schritte voneinander entfernt, er konnte zu Fuß über den Ölberg hinüber und war in Bethanien, dem Heimatort von Lazarus, oder er ging in das Kidron-Tal und in die Stadt Davids. Der Kreuzweg verlief durch das muslimische Viertel und mitten durch einen arabischen Suk, und die Schädelstätte, der Berg Golgotha, der Berg Zion und der zerstörte Tempel Salomons mit der Klagemauer befanden sich in angenehmer Gehweite vom Österreichischen Hospiz. Der Tempelberg war der Ursprung der Welt, der Ort, von wo Gott die Erde nahm, um Adam zu erschaffen, der Ort, wo Kain und Abel ihr Opfer darbrachten und Abraham seinen Sohn Isaak zum Opfer bringen wollte, aber auch der Ort, von wo Mohammed zum Himmel aufgefahren war, und es lag ihm alles zu Füßen, er konnte ein paar tausend Jahre Geschichte an einem Tag ablaufen, konnte durch das Alte und das Neue Testament und seine Mythen schlendern, mit kleinen Schlenkern hinein in den Koran, als wäre es nur ein harmloser Spaziergang und nicht ein ständiger Gleichgewichtsakt auf einem bluttriefenden Pfad.
Ich kam nicht dagegen an, dass ich das alles plötzlich wieder im Kopf hatte, obwohl ich mich dagegen wehrte. Es war ein Elend, in diese Welt hineingezogen zu werden, ein Elend, wahrzunehmen, wie wenig es brauchte, wie viel davon auch in den eigenen Knochen steckte, wenn man mit der Bibel aufgewachsen war, und wie sehr es sich in erster Linie als Schicksal herausstellte, als Verhängnis und nicht als die Verheißung, die einen von Kindesbeinen an auf Trab halten sollte. Natürlich erkannte ich darin den Daniel unseres gemeinsamen Sommers am Fluss wieder, andererseits war er mir fremd in seiner kategorischen Weltabgewandtheit, ja, ich fand seine Selbstbezogenheit abstoßend. Er war zum zweiten Mal in Israel, und zum zweiten Mal kümmerte er sich wenig um die Realität, auch wenn Christoph etwas anderes behauptete und sagte, es sei alles viel komplizierter. Auf einmal fiel mir wieder ein, über welche Geringfügigkeiten wir uns damals nachmittagelang den Kopf zerbrochen hatten, und ich fragte mich noch mehr, als ich es sonst tat, wie stark diese Abgehobenheit auch von mir stammen mochte. Am elegantesten war uns immer erschienen, von einer Position möglichst durch ein Labyrinth von Gedanken zu ihrem Gegenteil zu gelangen, ohne auch nur einmal den Boden der Wirklichkeit zu berühren, als wäre das der selbstverständlichste Weg von einer Wahrheit zur anderen. Ich wusste nicht, ob man durch solche Sophistereien jemanden wirklich für etwas Robusteres untauglich machen konnte, war aber froh, dass Christoph mir widersprach. Er selbst war wenige Tage nach einem Anschlag, bei dem zwei Selbstmordattentäter auf dem größten Markt in Jerusalem mehr als ein Dutzend Menschen mit in den Tod gerissen hatten, ins Land gekommen und sagte, ich würde Daniel unterschätzen, wenn ich glaubte, dass er das nicht mit der gleichen Bestürzung wahrgenommen habe wie alle anderen.
»Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst wegen der Bücher, die du ihm zu lesen gegeben hast«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass er in ihnen auch nur irgend etwas gefunden hat, was nicht schon vorher in ihm da war. Wenn du wissen willst, weshalb er so geworden ist, musst du die Gründe woanders suchen. Hast du mit Judith gesprochen?«
»Ja«, sagte ich. »Warum?«
»Weil du bei ihr am ehesten eine Erklärung findest.«
»Bei Judith?«
»Natürlich ist sie nicht die einzige gewesen. Hat sie dir nicht von seinen nächtlichen Anrufen erzählt und wie er ihr aus dem Hohenlied zitiert hat? Er hat seine Masche auch an anderen ausprobiert.«
Ich war überrascht von der plötzlichen Wendung des Gesprächs und auch davon, wie sicher Christoph zu sein schien, damit die letztgültige Erklärung zu haben. Es hörte sich bei ihm nicht anders an als Inspektor Hules Diagnose von einem jungen Mann, der soziale Situationen hasse und wahrscheinlich ein gravierendes Problem mit dem anderen Geschlecht habe, aber so erfuhr ich auch von dem Vorfall, der am Ende der Grund war, aus dem Daniel seine Stelle im Österreichischen Hospiz verloren hatte. Ich hütete mich, dem zuviel Bedeutung beizumessen, denn so wie Christoph es erzählte, war mein Eindruck, er stelle eine verfahrene Geschichte nur allzu einfach dar.
»Er hat
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