Eine Ahnung vom Anfang
ausgerechnet in der Grabeskirche jungen Frauen aufgelauert, offenbar angezogen von ihrer Andächtigkeit, und ist ihnen dann durch die ganze Stadt gefolgt«, sagte er. »Das hat zu Beschwerden und schließlich nach einer besonders krassen Entgleisung zu seiner Entlassung geführt.«
Ich ließ ihn reden und hörte nur mehr mit halbem Ohr zu. Zwar hatte ich wieder eine Geschichte, die in Israel spielte, aber es war eine Geschichte, bei der ich mich geniert hätte, sie zu erzählen. Kein Wort von dem Konflikt im Land, kein Wort über die wirkliche Geschichte, statt dessen die Nöte eines ehemaligen Ministranten, der von unverzeihlicher Naivität war und offensichtlich eine beträchtliche Energie entwickelte, um diesen Nöten zu entkommen. Christoph hätte mir genausogut von Daniels Liebe zu einer Palästinenserin erzählen und sie schwülstig ausmalen können, und es hätte nicht aufgesetzter gewirkt, im Gegenteil. Daraus hätte sich wenigstens ein spannender Zusammenhang konstruieren lassen, mit einer Verbindung zu einer Terrorgruppe und einem handfesten Motiv für eine Bombendrohung. Statt dessen lieferte er mir diesen zu spät gekommenen Jünger, den ich mit abgeknabberten Fingernägeln und dem Geruch nach ungewaschener Wäsche verband, eine Elendsgestalt, vor der sich die Frauen zu Recht in Sicherheit brachten.
Bei mir verfestigte sich immer mehr der Eindruck, dass ich weniger von Daniel wusste denn je. Natürlich hatte ich nicht wirklich geglaubt, es könne sich noch ein politischer Hintergrund auftun, der die beiden Bombendrohungen weniger absurd erscheinen ließe, oder zumindest auf andere Weise absurd, aber mir wäre alles lieber gewesen als diese buchstäbliche Auflösung der Figur, dieses buchstäbliche Verschwimmen der Geschichte im trüb Religiösen, ihr Verdampfen und Vernebeln in müden Weihrauchschwaden. Dann war da auch noch Israel. Ich konnte mir nicht verhehlen, welches Unbehagen es mir bereitete, wie Christoph darüber sprach. Schließlich hatte ich ihn in Geschichte unterrichtet, und ich empfand die offensichtlichen Auslassungen, die er sich leistete, auch als gegen mich gerichtete Provokation. Mir lag auf der Zunge, ihn zu fragen, ob sie in Yad Vashem gewesen seien, aber ich fragte nicht. Ich wollte nicht hören, wie er vielleicht triumphierend nein gesagt hätte, als müsste er sich ausgerechnet damit beweisen, dass er der Schule endgültig entwachsen war, oder wie er mit einem übertriebenen Stöhnen ja gesagt hätte, dem Stöhnen, das auch in der Klasse bei dem Thema nie ganz ausgeblieben war, als wären manche Schüler es leid, zum hundertsten und zum tausendsten Mal darauf hingewiesen zu werden, auch wenn ich es gerade zum ersten Mal erwähnte. Dabei war er damals einer von den Interessiertesten gewesen, und auch Daniel hatte keineswegs die Augen davor verschlossen, wie man es angesichts seiner Reisen im Land vielleicht annehmen könnte, sondern, ganz wie es seine Art war, mich nach Büchern gefragt, und ich hatte sie ihm gegeben, zuerst vor allem Primo Levi, später Imre Kertész und Aleksandar Tišma, und sein Schweigen, als er sie mir zurückbrachte, als Zeichen der Erschütterung angesehen.
In einer plötzlichen Eingebung nahm ich das Buch wieder zur Hand, in dem ich geblättert hatte, bevor Christoph aufgetaucht war. Es lag während unseres ganzen Gesprächs zwischen uns auf dem Holztisch und wog schwer mit seinen über tausend Seiten. Ich hatte da und dort hineingelesen und fühlte mich an etwas erinnert, aber es dauerte, bis ich darauf kam, woran. Es war der Roman Atlas wirft die Welt ab von Ayn Rand, und das gleiche Buch hatte ich damals im Freien gefunden, als ich zum Hof des Reverends hinausgefahren und mitten in der Nacht um das Haus gestrichen war. Ich hatte es vor der Haustür vom Boden aufgelesen und ohne nachzudenken an mich genommen. Dann hatte ich es im Auto liegenlassen und später noch einmal in der Wohnung verlegt und, als ich mich schließlich darum kümmern wollte, merkwürdigerweise nicht mehr wiedergefunden. Es war natürlich die englische Ausgabe gewesen, ein Buch, an das ich seither nicht mehr gedacht hatte, aber jetzt hielt ich die deutsche in den Händen und sah Christoph an.
»Das gibt es doch nicht«, sagte ich und schwenkte es aufgeregt vor ihm hin und her. »Du wirst nicht glauben, wo ich das schon einmal gesehen habe.«
Ich sagte es ihm, aber er winkte ab, als ich eine Verbindung herstellen wollte und fragte, ob er sich vorstellen könne, dass der Reverend
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