Eine Ahnung vom Anfang
tat, impulsiv und wie in der Absicht, einen Wirbelwind zu erzeugen, um die Bedeutung der einzelnen Stationen zu verwischen, bevor sie Form annehmen konnten, weil er ohnehin schon weiter war und sich über die Brüchigkeit des Konstrukts und die eigene Unbehaustheit und Ortlosigkeit keine Gedanken zu machen brauchte. Das erinnerte mich an die Art, wie er eine Zeitlang mit Taschenbüchern umgegangen war. Er hatte irgendwann begonnen, die gelesenen Seiten herauszureißen und zerknüllt in den Papierkorb zu werfen, nachdem er Bücher lange behandelt hatte wie Heiligtümer und selbst meine zerfleddertsten Schmöker am liebsten mit Handschuhen angefasst hätte. Das galt auch für die gefönten Exemplare, von denen ich ein ganzes Regal voll hatte, Romane, die mir beim Lesen in die Badewanne gefallen waren und die ich tatsächlich mit dem Haartrockner bearbeitet hatte, bis sie kurz vor der Auflösung standen. Er hatte die Seiten herausgerissen wie die Blätter in einem Abreißkalender, und genauso erzählte er von sich, als wäre mit dem Erzählen nicht eine Bekräftigung verbunden, sondern eine Auslöschung, und was benannt wurde, wäre im Augenblick des Benennens schon wieder aus der Welt.
Ich las das Manuskript gleich in der Nacht, während er im Raum nebenan schlief, und ich werde das Gefühl des Verrats nie vergessen, das mich befiel, mehr noch, ich ahnte, ich würde es in einem ganz körperlichen Sinn nie wieder loswerden, es war von da an Teil von mir. Ich hatte mich ins Bett gelegt und war mehrmals drauf und dran, meine Lektüre zu unterbrechen und zu ihm hinüberzugehen, ihn zu rütteln und ihm zu sagen, er solle sofort verschwinden und mir nie mehr unter die Augen kommen. Ich stellte mir vor, ich würde mich über ihn werfen und auf ihn einschlagen, und wusste gleichzeitig, ich wäre nicht imstande dazu. In Wirklichkeit könnte ich ihm nicht einmal Vorhaltungen machen, sondern würde wieder nur den verständnisvollen Lehrer hervorkehren, der ich nicht war und nicht sein wollte und den zu spielen mir auch im Unterricht zusehends mehr Mühe bereitete. Vielleicht würde ich sagen, es betrübe mich natürlich, aber es sei sein Recht zu schreiben, was er schreiben wolle, und damit hätte es sich. Um vier Uhr morgens war ich mit dem Lesen fertig, die Stunde der Nacht, zu der ich in Istanbul oft erst damit begonnen hatte, wenn ich nicht schlafen konnte, egal, ob ich früh zu Bett gegangen war oder nicht, und ich bildete mir jetzt ein, durch die Wand sein Husten zu hören, gefolgt von anderen Geräuschen. Dann wurde es wieder still, und ich kam erst da auf den Gedanken, dass er womöglich selbst die ganze Zeit wach gelegen war und kein Auge zubekommen hatte, weil er auf mein Urteil wartete und in seiner jugendlichen Verblendung allen Ernstes auch noch gelobt werden wollte, wie ich ihn in der Schule immer für seine Aufsätze gelobt hatte.
Es waren nicht die homoerotischen Passagen, die mir aufstießen, und ich hätte das Wort von mir aus nie verwendet und verwende es auch jetzt nur, um Klarheit zu schaffen. Mir liegt daran, das auszusprechen, weil ich fürchte, dass es das erste ist, worauf manch einer kommt, noch bevor er Näheres weiß. Es gibt nichts zu leugnen, immerhin waren wir in jenem Sommer über mehrere Wochen fast jeden Tag zusammen, und ich leugne auch nichts, im Gegenteil, selbst wenn ich nicht in jedem Detail mit Daniels Darstellung übereinstimme, muss ich zugeben, dass er die Atmosphäre dieser Zeit genau getroffen hat, das Vage, paradoxerweise, das Ungefähre unserer Stunden am Fluss.
Wir hatten zwischen dem Haus und den benachbarten Bäumen zwei Hängematten aufgespannt, nachdem die letzten Arbeiten an der Mühle abgeschlossen waren, und meistens lagen Christoph und Daniel darin, während ich in meinem Klappstuhl vor der Tür saß. Was das für die Spaziergänger, die fast tagtäglich vorbeikamen, womöglich hieß, habe ich schon angedeutet, und ich konnte mir vorstellen, welche Phantasien blühten, wenn einer der Jungen zur Schotterbank hinunterging und ein paar Bierflaschen aus der Strömung am Ufer fischte, wo wir sie zum Kühlen gelagert hatten, oder wenn eine Zigarette zwischen uns hin- und herwechselte und das Lachen der beiden in der Luft hing. Sie hatten Pfeile geschnitzt und aus einer Rute und einem Stück Schnur einen Bogen gebastelt, und wenn sie barfuß und nur mit ihren Badehosen bekleidet, einen Arm vorgestreckt, den anderen spitz hinter der Schulter abgewinkelt, dastanden und zielten,
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