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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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schien es wie eine Inszenierung für die ungebetenen Zuschauer zu sein. Ich weiß, dass das ein altbekanntes Sujet ist, aber niemand musste Kunstgeschichte studiert haben oder ein Liebhaber von Statuen sein oder sich von Knaben angezogen fühlen, um das Klischee zu erkennen und doch gleichzeitig vor dem Augenblick eingefrorener Zeit zu erschauern und den Schmerz über die Vergänglichkeit zu spüren.
    Da hatte ich mich an ihre Anwesenheit längst gewöhnt. Ich nahm sie an manchen Tagen in meinem Auto mit an den Fluss, an anderen kamen sie wie die ersten Male mit ihrem Moped, und es war eine solche Selbstverständlichkeit geworden, dass ich die zwei oder drei Mal, als sie unangekündigt wegblieben, überlegte, was ich mit mir anfangen sollte, und rastlos am Ufer auf und ab lief. Bis dahin hatte ich es mir noch nicht klargemacht, aber ich fuhr tatsächlich an manchen Tagen nur ihretwegen hinaus, nur um diese Stunden mit ihnen zu sein, und hätte meinen Versuch, den Eremiten zu spielen, wohl schon aufgegeben, wären sie nicht gewesen.
    Natürlich erinnere ich mich nicht an jede einzelne Szene, und ich kann nicht beurteilen, was Daniel dachte, wenn ich meinen Blick auf ihm ruhen ließ und er plötzlich aufschaute und es merkte, aber ich hatte nicht den Eindruck, er sehe darin etwas Verfängliches. Ich vermied so gut wie jede Berührung, nachdem ich dieses eine Mal im ersten Überschwang hinter ihm hergelaufen war und ihn umschlungen hatte. Vielleicht dass ich ihm noch einmal gedankenverloren über das Haar strich, oder ich tippte ihn an den Oberarm, wenn er in der Sonne eingenickt war und ich ihn auf etwas aufmerksam machen wollte, zog meine Hand aber sofort wieder zurück.
    Die Spannungen kamen nicht von uns, sie kamen von außen. An den Wochenenden drängten sich die Spaziergänger am Rand des Grundstücks, und die neugierigen Blicke nahmen manchmal so sehr zu, dass wir uns wie in einem Gehege fühlten. Einmal waren es Waldarbeiter, bei denen wir uns fragten, in wessen Auftrag sie gerade die Bäume in unserer Nähe mit weißen Kreidekreuzen markierten, die einen letzten Sichtschutz boten, dann ein weiteres Mal Kinder, die vom Sportplatz herabkamen und mit den Fingern auf uns zeigten. Danach geschah ein paar Tage lang nichts, aber als eines Morgens ein Wort auf die Eingangstür gesprüht war, das uns unmissverständlich stigmatisierte, war es, als hätte nur noch die richtige Bezeichnung gefehlt. Wir überlegten, ob wir es stehenlassen sollten, und übermalten es schließlich mit dem Rest der Lackfarbe, die wir für die Fensterrahmen verwendet hatten, ohne es damit natürlich aus der Welt zu schaffen.
    Daniel hätte alle Zutaten für eine reißerische Geschichte gehabt, und es wäre mir wahrscheinlich leichter gefallen, ihm zu verzeihen, wenn er aus mir eine zwielichtige Figur gemacht hätte, wenn es eine Anklage gegen mich geworden wäre, mit Anschuldigungen, wie sie fast schon der Konvention entsprechen, sofern er nur meinen Bruder aus dem Spiel gelassen hätte. Ich hatte ihm ein einziges Mal von Robert erzählt und da nur das Notwendigste, und er musste sich umgehört haben, oder vielleicht war das gar nicht nötig, weil ohnehin Gerüchte im Umlauf waren und nur nicht zu mir drangen oder er sich frei fühlte, die Fakten mit dem vermeintlich Naheliegenden zu ergänzen. Es war banal, wenn er schrieb, ich hätte ihn in diesem Sommer manchmal angestarrt, als sähe ich meinen Bruder in ihm, aber dass er für sein Ende nicht nur einen nachvollziehbaren Ablauf rekonstruierte, sondern auch einen schlüssigen Grund unterstellte, war nicht nur banal, sondern ungeheuerlich.
    Ich hatte mir lange den Kopf zerbrochen, warum Robert keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte, und tröstete mich schließlich damit, dass eine Erklärung schlimmer wäre als keine Erklärung, aber jetzt konnte ich bei Daniel lesen, es sei wegen einer unglücklichen Liebe gewesen, jetzt konnte ich lesen, Robert habe sich bei seinem Aufenthalt in den USA unsterblich in die Tochter seiner Gastfamilie verliebt, und es war nicht nur das Wort, es war das offenbar immer noch Romantische des Motivs, das mich abstieß. Sie trug in seinem Manuskript denselben Namen wie in der Wirklichkeit, und ich erinnerte mich, wie ich sie kennengelernt hatte. Wir hatten das Begräbnis zwei Tage aufgeschoben, damit sie mit ihrem Vater anwesend sein konnte, und sie erschien ganz in Schwarz und warf eine weiße Rose und ein Buch in das Grab, bevor sie eine Handvoll Erde darauf

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